Selbstwert - Susanne Prosser
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Wir sind doch schon alle längst gut genug

Es ist eine Botschaft, die ganz unbemerkt so gut wie alle Bereiche unseres Lebens unterwandert: “Du bist nicht gut genug”. Und es ist höchste Zeit, nicht mehr auf sie zu hören.

Diese Botschaft macht sich überall breit: Im Büro, in unseren Beziehungen, in unserem Kleiderschrank, im Badezimmer, im Bett, in der Küche, im Urlaub und im Spiegel. Es gibt eigentlich keinen Ort mehr, wo sie sich nicht mit immer anderen Gesichtern nicht in unser Unbewusstes einzunisten versucht.

Das Tückische an dieser Botschaft ist, dass sie sich in ganz besonders nette Deckmäntelchen kleidet. Und dass sie über Kanäle kommt, die wir alle täglich nutzen. Die Rede ist von Social Media. Einer Studie der Uni Mainz zufolge greifen gerade junge Menschen alle sieben Minuten (!) zu seinem Smartphone, um dort unter anderem eben die sozialen Medien zu checken. Eine Forschung von Tecmark wiederum belegt, dass der durchschnittliche Handynutzer täglich 214 Mal zum Smartphone greift. Jeden Tag drei Stunden würden im Schnitt mit dem Gerät verbracht.

Alles geht noch besser

Und da schwappen Sie schon daher: Selbstoptimierungstipps in Hülle und Fülle. Wir erfahren, wie wir endlich die besten Liebhaber werden und welche Dessous wir dafür brauchen, wie wir es endlich auf die Reihe bekommen, unsere Karriere neben Haushalt und den Kindern voranzubringen – denn eines alleine ist heute nicht genug – und wie wir endlich die fünf Kilo loswerden, die uns diese unnötigen Speckröllchen über dem Hosenbund bescheren.

Wenn wir die einen Ratschläge endlich befolgt haben und uns abmühen, in das Schema zu passen, klafft auch schon das nächste vermeintliche Manko an unserer Person, unserem Aussehen oder der Art, wie wir leben, auf.

Wir leben in einer Mangel-Gesellschaft

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich lieber auf die Mängel konzentriert als darauf, was schon alles da ist. Wie wertvoll wir als Menschen schon sind in allem, was wir sind – das kommt besser nicht zur Sprache.

 

Ist ja klar: Schließlich hängen ganze Industrien daran, die sehr viel damit verdienen, wenn wir uns permanent schlecht und ungenügend fühlen.

Neulich kam mir tatsächlich ein Artikel unter, der in einer gewissen Anzahl an Schritten beschrieb, wie man „ein besserer und liebenswerter Mensch“ werden würde. Da musste ich doch erst einmal mit den Augen blinzeln. Was bitte ist „ein besserer Mensch“? Und was ist überhaupt ein „liebenswerter Mensch“?

Es muss uns endlich bewusst sein und bleiben: Wir alle sind doch schon längst gut und liebenswert! Und wenn uns nicht alle liebenswert finden, macht uns das auch nicht zu einem “schlechten Menschen” – im Gegenteil. Dann bleiben wir uns wenigsten selber treu.

 

Ungefilterte Information wird zur Gefahr

Der Optimierungstrend hat noch eine weitere, gefährliche Komponente: Heute kann sich ja praktisch jeder „Autor“ oder „Blogger“ nennen und im Web publizieren. Viele davon haben nie eine entsprechende Ausbildung für diesen Beruf um zum Umgang mit Informationen gemacht. So gab es neulich ein Team von jungen Bloggerinnen, die so lange kein Fleisch aßen, bis ihre Regelblutung wegen Unterernährung ausblieb. Dieses „erfreuliche Resultat“ führten sie dann als “Beweis” dafür an, dass die Menstruation lediglich dazu diene, die Giftstoffe des Fleisches abzutransportieren und somit bei veganer Ernährung unnötig sei. Ein tausendfaches Online-Publikum wurde mit dieser hirnrissigen und vor allem gefährlichen Meldung erreicht. Und ich will nicht wissen, wie viele davon ihren Web-Idolen glauben schenkten und dem Fleischkonsum ebenso lange abdankten, bis der Arzt kommen musste.

Dieses Beispiel ist zwar extrem, doch zeigt es sehr gut, wie inflationär und unseriös viele Tipps zur „Selbstoptimierung“ sehr oft auf uns einfallen können. Und wie gefährlich diese “Optimierungstipps” für Gesundheit und Psyche werden können, und wie schnell sie verbreitet werden.

Gut genug: Wann hat es sich ausgecoacht?

Die Frage nach den “Verbesserungsmöglichkeiten” seiner selbst ist immer eine sehr sensible. Bis zu welchem Punkt “optimiert” man sich selbst? Wie viel kann und soll man aus sich herausholen? Wer gibt den Maßstab vor? Gibt es auch einmal einen Punkt, an dem es einfach genug ist und man sich selbst sagen muss: “Ich bin gut so, wie ich bin. Denn ich bin gut genug!” Ja, den gibt es, ganz bestimmt.

Viele der Wege, die professionelle Coaches und Autoren aufzeigen, um sich selbst weiterzuentwickeln und besser zu fühlen, sind wunderbar, inspirierend und sehr hilfreich. Sie lassen uns wachsen und über unsere Grenzen hinausgehen. Doch sollte jeder dies immer nur als Option ansehen und sich immer auch ehrlich fragen, ob das alles wirklich etwas mit einem selbst zu tun hat, ob er diesen Weg wirklich aus tiefstem Herzen gehen will – und vor allem: warum.

Unseren Wert geben wir uns selbst

Der Wert, den wir uns selbst und unserer Entwicklung zuweisen, geben wir uns ganz alleine selbst. Und da ist es durchaus immer angebracht, zu sagen: “Ich bin gut genug”. Auch dann, wenn man das eine oder andere mit einer spielerischen Leichtigkeit verändern will. Und da war es noch immer hilfreich, das persönliche Gespräch bei einem Coach oder Experten zu suchen, um nicht nur drauf los zu optimieren, sondern den eigentlichen Problemen und Bedürfnissen, die sich oft hinter dem offensichtlichen Thema verstecken, auf den Grund zu gehen. Und dabei geht es auch darum, zu seinen Schwächen auch mal “ja” zu sagen.

Auch, wenn wir viele Anregungen und Inspirationen von Profis und Menschen mit ähnlichen Erfahrungen in der Tasche haben, die aus professioneller Hand bestimmt sehr wertvoll sind: Am Ende ist es immer wichtig, dass wir selbst die besten Experten unseres Lebens bleiben und das letzte Wort darüber haben, dass wir gut genug sind.

Fotocredit: iStock.com/lzf

Aktualisiert am: 18. November 2019