Selbstwert - Sabine Otremba
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Was Achtsamkeit mit Rosinen zu tun hat

Die Achtsamkeit und ich, wir hatten einen schweren Start. Denn ehrlich gesagt hat sie mich ein bisschen genervt. Kein Mindstyle-Magazin kommt ohne sie aus und online stoße ich alle naselang auf Ratschläge, die mir suspekt sind. Etwa „Riech an einer Blume“ oder „Schau dir deine Umgebung ganz genau an“. Nicht zu vergessen die berühmte und oft beschriebene Rosinen-Meditation, die scharfzüngige Zeitgenossen gerne mal pointiert aufs Korn nehmen. Als Rosinen nicht besonders zugetaner Mensch tue ich mich tatsächlich schwer damit, eine Rosine so anzusehen, als sähe ich sie das erste Mal. Und ich lege auch keinen gesteigerten Wert darauf, ihre Furchen zu bestaunen oder sie mit allen Sinnen zu erleben. Aber lässt sich die Achtsamkeit wirklich nur auf eine Rosine reduzieren? Da muss doch mehr dran sein…

Der Pionier der Achtsamkeit: Jon Kabat-Zinn

Wer sich mit dem Thema Achtsamkeit beschäftigt, kommt an Jon Kabat-Zinn nicht vorbei. Der studierte Molekularbiologie ging als 21-Jähriger eher zufällig und ohne zu wissen, was ihn dort erwarten würde, zu einem Vortrag über Zen-Meditation. Kabat-Zinn war von dem Vortrag so begeistert, dass er sich noch am gleichen Tag an der Meditation versuchte und der Rest ist Geschichte. Denn der 73-jährige Amerikaner gilt mittlerweile als der Achtsamkeitspionier. Zugleich ist Kabat-Zinn derjenige, der Ende der 70er-Jahre die Meditation in die Schulmedizin integrierte. Und wo Meditation ist, ist Achtsamkeit naturgemäß nicht weit.

Achtsamkeit in der Medizin

Kabat-Zinn, der die positiven Effekte der Meditation durch jahrelange Praxis am eigenen Körper erlebt hatte, rief die „Mindful Based Stress Reduction“ (MBSR) ins Leben. Ziel dieser achtsamkeitsbasierten Stressreduktion war es, chronisch kranken Patienten, die etwa unter Migräne oder Depressionen litten, zu helfen. Dafür entwickelte Kabat-Zinn ein auf Yoga und Meditation basierendes Achtsamkeitstraining, das weniger fernöstlich angehaucht war und somit auch problemlos von westlichen Patienten akzeptiert wurde. Der Durchbruch gelang der MBSR zwar erst in den 90er-Jahren, doch mittlerweile hat sie sich etabliert. Immer mehr Studien legen nahe, dass die Meditation dabei helfen könnte, Angstzustände, Depressionen oder Schmerzen positiv zu beeinflussen. [1] Auch Anja Koch, Psychologin der Uni Jena, setzt auf die Wirksamkeit des MBSR. Denn damit gelingt es den Patienten oft, einen Schmerz potenzierenden Teufelskreis zu durchbrechen.

“Das ist ein Teufelskreis aus negativen Gedanken, Gefühlen und Verhalten, und der potenziert den Schmerz. Mit MBSR lernen sie, all das auf den Satz zu reduzieren: ‘Ich habe eine körperliche Empfindung, mehr nicht’. Das heißt ‘akzeptieren’: Einfach wahrnehmen, ohne Urteil und ohne emotionale Verstrickung. Die Akzeptanz beendet nebenbei den Teufelskreis.” [2]

 

Kleine Übungen für mehr Achtsamkeit

Wer sich in Achtsamkeit üben will, muss nicht gleich meditieren. Es gibt auch ganz alltägliche und sehr unspektakuläre Übungen, um achtsamer zu werden. Denn letztendlich geht es lediglich darum, sich ganz und gar der jeweiligen Aufgabe zu widmen. Und zwar ohne mit den Gedanken in die Vergangenheit oder in die Zukunft abzuschweifen. Das, was gerade getan wird, ist gut genug. Und zwar so, wie es ist. Für den Anfang reichen schon 5-10 Minuten täglichen Übens und die lassen sich wunderbar in den Alltag integrieren. Etwa:

  • Bewusst ein- und ausatmen und mit den Gedanken nur bei der Atmung bleiben.
  • Die Kaffee- oder Teepause bewusst zelebrieren, anstatt das Getränk nebenbei hinunterzustürzen.
  • Den nächsten Spaziergang einfach in eine kleine Geh-Meditation verwandeln. Also: Achtsam gehen und nur auf die Schritte achten, anstatt sich auf die übliche Gedankenflut zu konzentrieren.
  • Küchenarbeiten wie das Schälen der Kartoffeln oder den Abwasch achtsam verrichten, anstatt damit zu hadern, dass sich die Arbeit nicht von alleine erledigt.

Und wozu das alles? Weil es die Gelassenheit schult und die Fähigkeit, die Dinge so hinzunehmen, wie sie eben sind. Nicht immer funktioniert alles so, wie es geplant war. Sich darüber zu ärgern, macht es allerdings keinen Deut besser. Und genau da setzt die Achtsamkeit an, indem sie uns dabei hilft, die Dinge zu akzeptieren, die sich nicht ändern lassen.

Ich gebe zu, dass das gar nicht so übel klingt, sondern sehr überzeugend. Und natürlich kann man sich auch weiterhin über die Achtsamkeit lustig machen und sie lediglich auf das Anstarren einer Rosine reduzieren. Allerdings wäre es doch schade, eine so interessante Sache einfach zu ignorieren.

Quellen:
[1] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/57134/Meditation-Meta-Analyse-sieht-(begrenzte)-Wirkung-auf-psychische-Leiden
[2] http://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/achtsamkeit/pwieachtsamkeitindermedizin100.html

Fotoquelle: iStock.com/valio84sl

Aktualisiert am: 18. November 2019