Selbstwert - Sabine Otremba
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Achtsamkeit – aktueller denn je?

Alles hat seine Zeit – und die Achtsamkeit hatte ihre, so schien es. Sie war Stammgast in Blogs und Onlinemagazinen und füllte sogar auflagenstarke Print-Magazine. Irgendwann hatten wir die Achtsamkeit jedoch über und machten uns mit ätzendem Spott über sie lustig. Reduzierten sie auf die “Rosinen-Erforschungs-Übung”. Oder darauf, stundenlang reglos mit überkreuzten Beinen auf einem Meditationskissen zu sitzen. Die Achtsamkeit schien vom nächsten Hype abgelöst zu werden, doch plötzlich drängt sie sich erneut in unser Bewusstsein. Ein Fall für Liebe auf den zweiten Blick? Was fangen wir mit ihr an und wie kann sie uns helfen? Wir haben mit Instahelp-Psychologin Ramona Zenger darüber gesprochen. 

Achtsam sein – noch ein To-do?

Achtsamkeit – was ist das überhaupt und ist sie wirklich so wichtig, dass wir uns darüber Gedanken machen sollten?

Ramona Zenger: Im Zeitalter der Digitalisierung werden unsere Kompetenzen im Umgang mit Alltagsstress gefordert. Viel zu schnell passiert es, dass man den ganzen Tag To-do-Listen abhakt, ohne sich deren einzelnen Tätigkeiten wirklich bewusst gewidmet zu haben. Achtsamkeit soll uns dabei helfen, bewusster im Moment zu sein. Die Fähigkeit, seinen Aufmerksamkeitsfokus einzuschränken, ist für die Entwicklung von Achtsamkeit ausschlaggebend. Heutzutage beklagen sich viele Menschen über eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne, Achtsamkeit soll dem entgegenwirken und helfen, seine Aufmerksamkeitsspanne auszudehnen. Ausserdem soll uns Achtsamkeit in jeder alltäglichen Situation, sei es ein schwieriges Gespräch mit dem Chef oder in Alltagskonflikten mit seinen Mitmenschen helfen, indem wir die Emotionen zwar bemerken, jedoch wissen, dass diese vorüber gehen werden.

Alltagstauglich oder esoterischer Schnickschnack?

Lange Zeit wurde Achtsamkeit vor allem in esoterischen Kreisen thematisiert. Klassiker ist die „Rosine, die wir mit allen Sinnen erleben und verspeisen sollen“. Wie können wir uns die Achtsamkeit ganz pragmatisch zurückerobern und aus der esoterischen Ecke holen?

Ramona Zenger: Das Bewusstsein für Achtsamkeit ist in den letzten Jahren in der Allgemeinbevölkerung unglaublich angestiegen. Auch Menschen, die sich spontan nicht als esoterisch bezeichnen würden, interessieren sich für dieses Thema. Es stimmt zwar, dass Achtsamkeit ihren Ursprung im Buddhismus hat. Gegenwärtig wird Achtsamkeit jedoch auch in psychotherapeutischen Verfahren als wichtiger Baustein eingesetzt, dies völlig religionsfrei. Die Form von Achtsamkeit, welche bei uns im Westen weit verbreitet ist, hat wenig Ähnlichkeiten mit Achtsamkeit in esoterischen Kreisen.

Geht es auch ohne Meditation?

Geht Achtsamkeit zwangsläufig mit Meditation einher? Oder lässt sie sich anders in den Alltag integrieren?

Ramona Zenger: Achtsamkeit lässt sich auch ohne Meditation in den Alltag integrieren. Dies geschieht, indem man sich in jeder Situation auf den gegenwärtigen Moment bezieht. Das kann man bereits beim morgendlichen Zähneputzen üben, dadurch dass man nichts mehr nebenbei macht und sich lediglich auf die Empfindungen, welche die Zahnbürste auf den Zähnen auslöst, konzentriert. Das klingt sehr einfach, ist es jedoch anfänglich nicht, weil man sich zuerst daran gewöhnen muss, die Aufmerksamkeit lediglich den körperlichen Empfindungen zu schenken.

Achtsam oder egozentrisch?

Ist es nicht ein wenig egoistisch, wenn wir ständig achtsam in uns „hineinhorchen“ und uns genau beobachten?

Ramona Zenger: Achtsamkeit muss nichts mit Egoismus zu tun haben; indem man tägliche Aktivitäten achtsamer macht und seinen Fokus verstärkt wird man nicht egoistischer. Ganz im Gegenteil, durch Achtsamkeit können auch positive Effekte auf zwischenmenschliche Beziehungen erfolgen. Man kann sich dies so vorstellen, dass wenn man durch mehr Achtsamkeit eine positivere Beziehung zu sich selbst schafft, auch zufriedener wird und diese Gelassenheit sich auch auf die Beziehungen zu seinen Mitmenschen auswirkt.

Achtsamkeitsübung für den Alltag

Welche einfache Achtsamkeitsübung für den Alltag (die nichts mit Rosinen zu tun hat) empfehlen Sie?

Ramona Zenger: Im Beginn jeder neuen Handlung liegt eine grosse Kraft, welche Zeit braucht sich in unserem Hirn zu verankern. Eine einfache Übung für den Alltag ist zum Beispiel jeden Morgen, bevor der Alltag einen in Beschluss nimmt, drei bewusste Atemzüge zu nehmen. Diese kleine Übung hilft dem Geist zu lernen, den Aufmerksamkeitsfokus für eine gewisse Zeit bewusst auf eine Sache zu lenken.

Fotocredits: iStock/Anna_Om

Aktualisiert am: 18. November 2019