Selbstwert - Sabine Otremba
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Prioritäten, Weihnachten und das liebe Gewissen

Wer in den Wochen rund um Weihnachten und Neujahr noch viel Freiraum in seinem Terminkalender oder auf der To-do-Liste hat, lebt vermutlich auf einer einsamen Insel. Denn obwohl das Jahr 365 Tage hat, verlangt uns der Endspurt noch einmal alles ab. Wohl denen, die Prioritäten setzen können. Und zwar ohne schlechtes Gewissen…


„Prioritäten setzen? Wozu?“, mögen sich die Energiebündel unter uns denken. Ich arbeite einfach noch ein bisschen emsiger, gehe später ins Bett und stehe früher auf – so der Plan. Klingt im ersten Moment durchaus plausibel. Zumal es unzählige Tricks und Kniffe gibt, die unserer Produktivität auf die Sprünge helfen wollen, auf dass selbst die längste To-do-Liste ihren Schrecken verliert.

  • Das Smartphone in ein anderes Zimmer legen oder gleich dort arbeiten, wo wir kein Netz haben,
  • uns eine Morgenroutine zulegen,
  • Single-Tasking oder Multi-Tasking betreiben
  • und an unserer Disziplin arbeiten.

Funktioniert alles –ich habe es selbst ausprobiert. Dumm nur: Wir sind keine Maschinen und wir sind auch nicht 8 Stunden oder länger voll leistungsfähig – über mehrere Wochen am Stück. So fleißig wir also auch sein mögen: Ums Setzen gescheiter Prioritäten kommen wir nicht herum. Nie. Aber erst recht nicht in der Vorweihnachtszeit. Es sei denn, wir gewöhnen uns an das allgegenwärtige Gefühl der Überforderung und setzen Spaß, Lebensfreude und vorweihnachtliche Stimmung an die letzte Stelle unserer To-do-Liste. Ist ja alle Jahre wieder Weihnachten und irgendwann machen wir es dann anders…

Prioritäten setzen: Ja, nein, lieber morgen?

Was das Setzen von Prioritäten so schwierig macht, ist die Tatsache, dass die Entscheidung für etwas naturgemäß auch immer eine Entscheidung gegen etwas anderes ist. Das ist im Alltag schon schwierig genug, um Weihnachten herum ist es jedoch eine besondere Herausforderung. Was ist, wenn wir die falsche Entscheidung treffen? Und was ist, wenn wir uns damit unbeliebt machen? Etwa, indem wir allen Mut zusammennehmen und höflich aber bestimmt die Einladung zum Adventskaffee bei den Schwiegereltern absagen, weil wir wissen, dass wir diesen Sonntag einfach für uns brauchen. Was zur Folge hat, dass die Gastgeber zwar vordergründig verständnisvoll auf die Absage reagieren – das aber in einem Tonfall, in dem ein unmissverständliches „Na wenn dir andere Dinge wichtiger sind…“ mitschwingt.

Wäre es da nicht sinnvoller – und sicherer – lieber mehrere Dinge gleichzeitig anzugehen und so niemanden vor den Kopf zu stoßen? Ein verständlicher Wunsch, der leider die Gefahr birgt, dass wir alles halbherzig machen und nichts richtig. Dass wir zwar überall dabei sind, im Geiste aber schon wieder auf dem Sprung. So machen wir es zwar allen recht, kommen dabei aber selbst zu kurz… womit wir schon mittendrin sind im Setzen der Prioritäten.

Weil wir es uns wert sind

„Weil Sie es sich wert sind“ – dieser Werbeslogan eines Kosmetikunternehmens bringt schön auf den Punkt, warum das Setzen von Prioritäten eine gute Sache ist. Wir tun es nicht, um unsere Mitmenschen zu ärgern. Wir tun es für uns. Für unsere Seele und für unsere Gesundheit. Um die für uns stimmigen Prioritäten setzen zu können, helfen ein paar Überlegungen:

  • Worum geht es eigentlich? Was wünschen wir uns wirklich? Wollen wir das perfekte Weihnachtsessen ausrichten, an das sich die Gäste noch Jahre später erinnern? Oder wollen wir einfach nur schöne Stunden mit unseren Lieben verbringen, die wir sonst viel zu selten sehen? Möglich, dass beides Hand in Hand geht. Möglicherweise aber auch nicht.
  • Ist es uns das wert? Am Beispiel der Weihnachtsbäckerei: Versetzt uns das Plätzchenbacken in schönste Weihnachtsstimmung und backen wir sie fast noch lieber, als dass wir sie essen? Dann ist die Weihnachtsbäckerei gesetzt. Anders sieht es aus, wenn alleine der Gedanke daran, wie lange wir für etwas in der Küche stehen, was anschließend in Sekundenschnelle verputzt wird, für Stirnrunzeln sorgt. Hier sollten wir die Prioritäten weise setzen. Oder Kompromisse eingehen und beispielsweise fertigen Keksteig aus dem Kühlregal besorgen.
  • Wunsch und Wirklichkeit: Wenn wir die für uns richtigen Prioritäten herausgefiltert und evtl. aufgeschrieben haben, ist der Realitätscheck hilfreich. Abhängig davon, wie vollgestopft unser Tag ist, ist eine Liste mit mehr als 10 Punkten extrem ambitioniert. Es sei denn, es handelt sich um Punkte, die in 10-15 Minuten abgehakt werden können. Was voraussetzt, dass die einzelnen Punkte im Kleingedruckten nicht einen Rattenschwanz verschiedener Unterpunkte nach sich ziehen.
  • Auf eine Sache konzentrieren: Selten sind alle Punkte gleichermaßen wichtig. Also picken wir uns die wichtigsten heraus. US-Autor Gary Keller geht in seinem Buch „The One Thing“ [1] sogar so weit, wie es der Titel des Buches vermuten lässt. Keller ist der Ansicht, dass es nur einen Punkt gibt, auf den wir uns konzentrieren müssen. Nun mag nicht jeder so minimalistisch wie Keller unterwegs sein. Dennoch ist es empfehlenswert, wenn wir uns 1-5 Punkte herauspicken und hierbei kann eine Gewichtung der Punkte nach dem Eisenhower-Prinzip für Klarheit sorgen.
  • Das Eisenhower-Prinzip: Ob der ehemalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower tatsächlich nach dieser Methode priorisiert hat, ist nicht überliefert. Dennoch ist er der Namensgeber des Prinzips, das hilft, wenn alles die höchste Dringlichkeitsstufe zu haben scheint. Die einzelnen Punkte der To-do-Liste werden wie folgt einsortiert: Dringend und wichtig (erledigen). Dringend, aber nicht wichtig (delegieren). Nicht dringend, aber wichtig (terminieren). Nicht dringend und nicht wichtig (entsorgen).

Es wird sich zeigen, ob es uns letzten Endes tatsächlich gelingt, Prioritäten zu setzen und das Echo auszuhalten, das unser Nein nach sich zieht. Doch alleine die Tatsache, dass wir darüber nachdenken, was uns wirklich wichtig ist, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Das Leben ist zu kurz und zu wertvoll, um wie ein fremdgesteuerter Alltagsroboter durchs eigene Leben zu hetzen. Und obwohl Weihnachten die „Zeit der Liebe“ ist, sollten wir dabei nicht nur an andere denken. Sondern auch an uns selbst. Manchmal ist ein Nein zu anderen ein Ja zu uns selbst. Und wenn wir uns in diesen Tagen nicht eine Portion Selbstliebe schenken und verständnisvoll mit uns selbst umgehen wollen, wann dann?

[1] Gary Keller: The One Thing. John Murray Learning Verlag, 2014.

Fotocredits: iStock.com/wojciech_gaida

Aktualisiert am: 18. November 2019