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Der Schüchternheit die Zähne zeigen

Hoffentlich sage ich nichts Falsches. Alle anderen werden merken, wie unsicher ich bin. Mache ich mich lächerlich? Diese und ähnliche Gedanken sind uns allen in mehr oder weniger ausgeprägter Form bekannt. Schüchterne Menschen beißen sich an diesen Gedanken allerdings fest, wie der Hund an seinem Knochen. Und so fühlt sich ein Leben mit Schüchternheit ein wenig wie das Leben unter einem Mikroskop an. Von allen beobachtet und eigene Fehler und Unzulänglichkeiten werden vom Staubkörnchen zum Felsen. Der Rückzug in die Komfortzone ist allzu verlockend, nur wird so ein Teufelskreis in Gang gesetzt…


Die Schüchternheit lähmt uns. Wir trauen uns nichts zu, gehen Herausforderungen aus dem Weg und ziehen uns zunehmend in die Komfortzone zurück. Das fühlt sich im ersten Moment bequem an. Doch so verlernen wir leider, uns überhaupt noch irgendwelchen Herausforderungen zu stellen. Mit dem Rückzug in die Komfortzone schränken wir nicht nur unsere Handlungsmöglichkeiten erheblich ein, sondern letztendlich auch unser Leben. Bis es eines Tages tatsächlich so winzig wird, dass es unter ein Mikroskop passt.

Schüchternheit verschwindet nicht von alleine

Die Schüchternheit wird uns unweigerlich in die Knie zwingen – es sei denn, wir nehmen es mit ihr auf. Was bedeutet, dass wir den Stier bei den Hörnern packen. Oder eben die Schüchternheit. Und uns nicht von ihr in die letzte Ecke der Komfortzone drängen lassen. Je eher wir die Herausforderung annehmen und der Schüchternheit die Zähne zeigen, desto besser. Denn: Alles, was wir regelmäßig tun, wird zur Gewohnheit. Im Guten wie im Schlechten.

  • Schüchtern – na und?
    Selbstvorwürfe sind nie hilfreich, sondern nur Ballast, den wir in unserem ohnehin schon viel zu schweren Rucksack mit uns durch die Gegend schleppen. Ja, Schüchternheit macht das Leben schwerer. Sie ist wie ein fieser Stein im Schuh, den wir einfach nicht loswerden. In manch selbstmitleidigem Moment erinnern wir uns vielleicht an diese oder jene Chance, die wir aufgrund unserer Schüchternheit nicht genutzt haben. Geschenkt. Selbstgeißelung bringt nichts und vor allem bringt sie verstrichene Möglichkeiten nicht zurück. Wenn wir damals hätten anders handeln können, dann hätten wir es vermutlich getan. Anstatt uns permanent für unsere Schüchternheit zu verfluchen und uns im Geiste das Leben auszumalen, das wir vielleicht hätten, wenn wir weniger zurückhaltend wären, können wir das Leben leben, das wir haben. Und zwar so gut, wie es uns möglich ist.
  • Die eigene Wichtigkeit überdenken:
    Für Menschen, die gerne im Mittelpunkt stehen, mag das eine schlechte Nachricht sein – Schüchterne hingegen dürfen aufatmen. Sehen wir der Tatsache ins Gesicht sehen, dass wir nicht halbwegs so bedeutend sind, wie wir glauben. Andere denken nämlich weitaus weniger über uns nach, als wir das für möglich halten. Und vor allem denken sie sehr viel weniger über uns nach, als wir es selbst tun. Es ist sogar wahrscheinlich, dass ihre Gedanken so sehr um sich selbst kreisen, dass sie damit vollauf ausgelastet sind und nur am Rande von uns Notiz nehmen. Entspannen wir uns also ein wenig und machen uns bewusst, dass das, was wir für eine Katastrophe halten, von anderen kaum registriert wird – es sei denn, wir bauschen unseren vermeintlichen Fauxpas unnötig auf.
  • Den Blickwinkel ändern:
    Wenn wir uns selbst ständig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wähnen, ist es verständlich, dass wir nervös werden. Oder Fehler machen. Entspannend wirkt es, wenn wir den Blick auf andere lenken. Uns also beim nächsten Gespräch nicht permanent fragen, was unser Gesprächspartner wohl von uns hält oder wie wir wirken. Lenken wir die Aufmerksamkeit stattdessen auf andere und versuchen, die Menschen, die uns gegenüberstehen, ein wenig besser kennenzulernen. Oder fokussieren wir uns darauf, was wir mit dem Gespräch erreichen wollen.
  • Bitte mit Gefühl:
    Anstatt gedanklich darum zu kreisen, was wir nicht fühlen wollen, können wir den Spieß umdrehen. Und das gelingt relativ einfach, indem wir uns stattdessen fragen,  wie wir uns in der jeweiligen Situation fühlen möchten. Das erfordert ein wenig Übung, ist aber eine äußerst wirksame Methode, um das selbstzerstörerische Gedankenkarussell zu stoppen und den Blick auf das zu lenken, was wir erleben wollen.

Vom Mäuschen zum Löwen?

Klingt alles irgendwie unbequem und anstrengend? Ist es auch. Und darum tun wir gut daran, gerade am Anfang von Tag zu Tag zu denken – oder von Herausforderung zu Herausforderung. Jede Situation, in der wir der Schüchternheit die Zähne gezeigt haben, anstatt uns von ihr ins Bockshorn jagen zu lassen, ist ein Erfolg. Mal werden wir die Nase vorn haben und mal die Schüchternheit. Das ist normal und neue Verhaltensweisen brauchen eben ihre Zeit, ehe sie stabil genung sind, um automatisch abgerufen zu werden. Hilfreich ist es außerdem, wenn wir die Realität anerkennen und uns nicht in Illusionen verlieren. Wir können es durchaus mit unseren Ängsten aufnehmen und den mutigeren Umgang mit anderen lernen. Allerdings wird kaum eine komplette Typänderung stattfinden, die das Mäuschen dauerhaft zum Löwen macht. Und das ist auch gut so.

Wie herzerwärmend ein eher zurückhaltender Mensch sein kann, der seine Komfortzone verlässt, zeigt sich am Beispiel von J.K.Rowling. Die Autorin der „Harry Potter“-Romane war schon als Kind sehr schüchtern und hatte es auch später eher mit dem Lesen und Schreiben, als mit großen Auftritten im Rampenlicht. Dennoch hält sie 2008 ihre „The fringe benefits of failure“-Rede in Harvard. Weder liefert sie eine atemberaubende Performance ab noch gibt sie noch nie dagewesene Ratschläge oder Motivationstricks. Sie ist – ganz Rowling – zurückhaltend, selbstironisch und liest ihre Rede sogar ab. Und zeigt damit, dass eben nicht nur die große Show punktet, sondern dass auch leise Töne das Publikum verzaubern können – und genau die beherrschen Schüchterne ziemlich gut, wenn sie sich denn trauen, über ihren Schatten zu springen.

Fotocredits: iStock.com/Rohappy

Aktualisiert am: 29. August 2024
Selbstwert - Sabine Otremba