Mentale Gesundheit - Sabine Otremba
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Mentale Gesundheit – ein Selbstläufer?

Für unsere körperliche Gesundheit tun wir – hoffentlich – einiges. Wir achten auf unsere Ernährung, treiben Sport und wenn uns der Körper in die Knie zwingt, suchen wir kompetente Hilfe. Die seelische Gesundheit scheint eher ein Selbstläufer zu sein. Vielleicht gönnen wir uns aufmunternde Belohnungen, wenn wir gestresst sind. Achten – mehr oder weniger erfolgreich – auf unsere Work-Life-Balance und reißen uns zusammen, wenn wir einen Durchhänger haben – wird schon wieder werden. Verglichen mit unserem Körper behandeln wir unsere Seele geradezu stiefmütterlich. Doch ist die seelische Gesundheit wirklich der Selbstläufer, für den wir sie halten? Wir haben zum WHO Welttag der seelischen Gesundheit mit Instahelp-Psychologin Annette Wallisch-Tomasch darüber gesprochen.

Macht die Suche nach dem Glück unglücklich?

Seelische Gesundheit und Glück scheinen fest zusammenzugehören. Auf die Suchphrase „Wie werde ich glücklich“ spuckt Google innerhalb von 0,40 Sekunden 25.400.000 Ergebnisse aus. Die Glückindustrie floriert. Sachbücher mit eingebautem Glücksversprechen und Patentrezepten fluten die Regale. Dennoch ist es um unsere seelische Gesundheit nicht gut bestellt. Psychische Erkrankungen sind – auch unter jungen Menschen – auf dem Vormarsch. [1,2] Kann es sein, dass diese Fixierung aufs Glück eher unglücklich macht?

Annette Wallisch-Tommasch: Generell ist zu sagen, dass Fixierungen jeglicher Art unglücklich machen. Das Wissen aus der provokativen Psychotherapie besagt, dass Fixierung eine der Wachstumsbremsen ist, die uns Menschen an der Entwicklung maßgeblich behindern. Und somit auch das Glück. Feigheit (mangelnder Mut) und Faulheit (Komfortzone) sind die anderen beiden Übeltäter. Es gilt seine vorgefertigten Meinungen, vorgekauten Glücksrezepte und Überzeugungen ordentlich auf den Kopf zu stellen. Damit neue Erfahrungen möglich werden. Wie heißt es so schön: „Wenn du willst, dass es anders wird, dann mach es anders.“

Das Wesentliche an der Suche ist, herauszufinden, was mir tatsächlich gut tut. Und das ist meist etwas ganz anderes, was mein mental eingeimpfter Sklaventreiber behauptet. Und hat übrigens in den wenigsten Fällen mit Konsumgütern und Abos zu tun.

Life-Coaching im Internet – Fluch oder Segen?

Die Hemmschwelle, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist hoch. Mittlerweile gibt es allerdings auch unzählige Onlinemedien (z.B. Blogs, Podcasts, Youtube), die sich seelische Gesundheit auf die Fahnen geschrieben haben und die alle nur denkbaren psychologischen Themen (in einer Bandbreite von einfachen Life-Hacks bis hin zu Depressionen) abhandeln. Geling-Garantie gibt es inklusive – zumindest dann, wenn die Leser die Life-Coaching-Tipps befolgen. Ist das nicht schon Hilfe genug?

Annette Wallisch-Tommasch: Es ist das Eine, durch diverse Medien psychologisch wertvolle Strategien vermittelt zu bekommen. Es ist aber das Andere, eine echte emotionale Einsicht zu haben. Diese ist nicht planbar. Erleben und Fühlen sind irrational und ungebändigt wie ein wildes, freies Tier. Deshalb laufen Prozesse der Orientierung und Lösungsfindung nie linear ab. Es ist ein Auf-und Ab, ein Hin-und Her, ein Fragen und Beantworten. In einer erfolgreichen Beratung und Behandlung geht es daher immer um emotionale Beteiligung, damit etwas in Bewegung kommt. Das gelingt am besten in Form einer Beziehung zwischen dem, der Rat sucht, und dem, der beisteht. Gut also, wenn es eine echte Begegnung ist.

Sind wir Versager, wenn die Seele “versagt”?

Wenn wir uns ein Bein oder einen Arm brechen oder einen Unfall haben, ernten wir Mitgefühl. Oft bekommen wir sogar Hilfe. Wenn die seelische Gesundheit angeknackst ist, währt das Verständnis nur kurz. Stattdessen folgt schnell der wohlmeinende Rat: Stell dich nicht so an und reiß dich doch einfach mal zusammen. Es scheint – sogar von uns selbst – immer noch als persönliches Versagen gewertet zu werden, wenn die Seele Hilfe benötigt. Warum ist das so und wie können wir das ändern?

Annette Wallisch-Tommasch: Die Brandbreite vom seelischen oder psychischen Leid ist enorm – ob es ob es sich um vorübergehende seelische Konflikte handelt oder um eine psychische Erkrankung.

Je uneinsichtiger und komplexer, desto weniger verständlich und tabubesetzter ist ein Leiden für die Außenwelt. Die Psyche ist nach wie vor eine Art mysteriöse „black box“. Besonders im Job, wo Schwäche ein Tabu und Karrierekiller Nummer eins ist, gilt: Wenn Krankheit unberechenbar ist, ist es psychische Krankheit erst recht. Wie sieht die Heilung aus, woran merke ich, dass die Person wieder leistungsfähig ist?

Das, was der Mensch seit jeher weiß, aber gesellschaftlich verdrängt wurde, wird vielfach von der Wissenschaft in Medizin, Psychologie und Psychotherapie bestätigt: Körper und Psyche sind eine Einheit und genauso ebenbürtig zu behandeln. Es liegt an jedem von uns, sich fundierte Information zu Behandlungsmöglichkeiten zu beschaffen und nach einem neuen, offenen Gesundheitsverständnis im Alltag zu leben.

Sit-ups für die seelische Gesundheit

Unsere seelische Gesundheit betrachten wir gerne als etwas, das zu funktionieren hat und um das wir uns erst sorgen, wenn es eben nicht mehr funktioniert. Wie lässt sich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die psychische Gesundheit ebenso fragil ist wie die körperliche? Was können wir vorbeugend tun? Was wäre also gewissermaßen das seelische Äquivalent zu Kniebeugen, Sit-ups und gesunder Ernährung?

Annette Wallisch-Tommasch: Es gibt Schutzfaktoren, die die psychische Widerstandskraft (Resilienz) stärken. Dazu gehört unbedingt die Pflege eines sozialen Netzwerkes, gesunde Ernährung und Bewegung und das Ausleben von Interessen. Fähigkeiten und innere Haltungen wie Selbstwert, Selbstwirksamkeit/Kontrollüberzeugung, Planungsprozesse/Zieldefinition, Durchhaltevermögen, Optimismus, Hilfsbereitschaft, soziale Kompetenz stecken da unter anderem dahinter. Zu theoretisch?

Dann hier ganz verständliche „Psycho-Sit-ups“ für zwischendurch:

  • Lachen (nicht immer so todernst!)
  • Genießen und Spüren (mit allen Sinnen!)
  • Zeit nehmen (muss es immer einen Grund geben?)
  • Kontakte pflegen (Wertigkeit geben und geschenkt bekommen)
  • Meinen Körper achten und versorgen (bewegen & pflegen)
  • Kontakt mit Natur und Tier (Einssein mit dem großen Ganzen)
  • Ziele setzen und umsetzen (konkret, realistisch, Ich-bezogen)
  • Kreativ und schaffend tätig sein (wirksam sein!)
  • Meine Werte und Visionen erinnern (glauben!)

 

Welche Warnsignale schickt die Seele?

Der Körper kann uns deutliche Warnsignale senden, z.B. stechende Schmerzen oder Atemnot. Wie sieht es mit der Seele aus? Gibt es bzgl. der seelischen Gesundheit Alarmsignale, bei denen wir hellhörig werden sollten?

Annette Wallisch-Tommasch: Meistens sind es Signale, die recht unspezifisch sind und vielen Krankheitsbildern zugeordnet werden können. Aber der Körper hat eben ein eingeschränktes „Vokabular“: Manchmal verwendet er die gleiche Sprache für „Ich kann nicht mehr, hol uns aus dem Wahnsinn raus!“ wie für „Nimm endlich ab, dein Herz schafft das nicht mehr!“. Es zählen also nicht nur emotionale sondern auch körperliche Reaktionen zu den Symptomen:

Veränderung der Gefühlsage (Gefühlsleere, Trauer, Reizbarkeit, Angst, Zwangsgedanken), Schlafstörungen, Veränderung des Essverhaltens, Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, Lustlosigkeit, Leistungsabfall, Schwindel, Entfremdungsgefühl, Atemnot & Herzrasen, Infektanfälligkeit, chronische Erkrankungen…

Diese Reaktionen sind auch im sozialen Umfeld spürbar mit oft problematischen Auswirkungen. Generell gilt: Wachsam und präsent sein, Begleitung zu einer Behandlung anbieten und – vor allem – viel Geduld haben.

 

Quellen:

[1]TK Gesundheitsreport 2017: https://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/953298/Datei/87121/TK-Gesundheitsreport-2017.pdf
[2] Barmer Arztreport 2018: https://www.barmer.de/presse/infothek/studien-und-reports/arztreporte/barmer-arztreport-2018-144304

Fotocredits: iStock/TheaDesign

Aktualisiert am: 18. November 2019