Große Gefühle oder weniger Drama?
Große Gefühle sind in. Wir schwelgen in Superlativen und rasen auf einer emotionalen Achterbahn durchs Leben. Dagegen lässt sich leider nichts machen. Gefühle sind wichtig. Besonders unsere eigenen. Und sie sind stärker als wir. Wenn sie uns überrollen, sind wir ihnen machtlos ausgeliefert und selbstverständlich müssen wir ihnen unverzüglich nachgeben. Denn sonst droht uns die Höchststrafe: ein lauwarmes Leben. Das suggerieren Blockbuster, Romane und natürlich die sozialen Netzwerke. Da haben wir die Rechnung wohl ohne die Neurowissenschaftlerin Dr. Jill Bolte Taylor gemacht. In ihrem Buch „My Stroke of Insight“ schreibt sie einer jeden Emotion einen biochemischen Lebenszyklus von nur 90 Sekunden zu – wenn wir das Gefühl nicht durch entsprechende Handlungen künstlich verlängern. Das wirft Fragen auf. Etwa die, ob wir unseren Gefühlen wirklich so hilflos ausgeliefert sind. Oder welche Rechtfertigung es für einen temperamentvollen Wutausbruch gibt, der einer italienischen Operndiva gut zu Gesicht stünde.
Zeitalter der großen Gefühle
Schon mal jemanden erlebt, der auf Instagram sein durchschnittliches, eher lauwarmes Leben zelebriert? Und damit Millionen von Followern begeistert? Wohl kaum. Wir leben unsere Träume, brennen stets für irgendwas und geben 100 Prozent. Mindestens. Wir sind die Inspiration in Person. Wir haben das Rezept für den weltbesten Smoothie und teilen mit Freuden die Schnappschüsse, die uns mit unseren BFF’s (Best friends forever) an den weltschönsten Orten zeigen. Dem gegenüber steht das Tal der Tränen, in das wir regelmäßig stürzen, wenn uns irgendwas in die Quere kommt, das sich Leben nennt. Was auch immer es ist: Es ist ein Drama, wie es die Welt noch nie gesehen hat. Dummerweise ist das, was in Film und Roman für beste Unterhaltung sorgt, im echten Leben furchtbar anstrengend. Nur wenig laugt auf Dauer so sehr aus, wie die permanente Fahrt in der emotionalen Achterbahn. Tun wir uns also selbst etwas Gutes, indem wir den Dampfkochtopf unserer Gefühle nicht sich selbst überlassen. Zumal es selten eine gute Idee ist, dem ersten Impuls nachzugeben. Im Affekt geschriebene Kurznachrichten und Mails lesen sich meist ganz anders, wenn sich unsere Gefühle wieder auf Normalmaß eingependelt haben…
Die Gefühle an die Leine nehmen
Es geht nicht darum, Gefühle zu ignorieren oder sie zu unterdrücken. Emotionen, die wir krampfhaft zu verdrängen suchen, entwickeln ein ungesundes Eigenleben. Sie plagen uns länger, als wenn wir sie bewusst er- und durchleben. Allerdings ist es nicht nötig, dass wir uns ausschließlich von unseren Emotionen leiten lassen. Wir müssen nicht zum Spielball unserer Gefühle werden. Ein paar Tipps zum „Runterkommen“:
- Abwarten: Gemäß Dr. Bolte Taylor dauert eine Emotion 90 Sekunden – wenn wir nicht sofort auf dieses Gefühl anspringen, wie der Hund auf einen Knochen. Besser: Das aufkommende Gefühl registrieren und es beobachten („Ich bin gerade so unglaublich wütend, dass ich eine Tasse zerschmettern könnte!“), ohne zu reagieren. Nach diesen 90 Sekunden haben wir die Wahl, ob wir diesem Impuls tatsächlich nachgeben und uns in dieses Gefühl hineinsteigern wollen oder ob eine andere Reaktion angemessener ist.
- Laissez-faire: Große Gefühlsdramen entstehen gerne mal, weil wir uns den nächstbesten Schuh anziehen, der vor unserer Nase steht. Dummerweise war er vielleicht gar nicht für uns bestimmt. Wir werten ein grantiges Gesicht oder einen ausbleibenden Gruß sofort als persönliche Kränkung. Obwohl unserer Gegenüber nur geistesabwesend war. Und nicht jeder, der anderer Meinung ist, greift uns damit persönlich an. Ein wenig Laissez-faire hilft, um nicht von einem Gefühlsdrama ins nächste zu stolpern.
- Faktencheck: Der Partner ist abends mal wieder spät dran? Möglich, dass er uns absichtlich ärgern möchte oder dass er mit der Kollegin mehr Spaß hat. Vielleicht steht er aber auch nur im Stau, hat die Zeit vergessen oder hängt noch in einem wichtigen Gespräch fest. Wir tun uns einen großen Gefallen, wenn wir den luftleeren Raum nicht mit wüsten Spekulationen füllen. Denn was auch immer wir glauben: Es wird den Verlauf des Abends prägen.
- Körperbalance: Gefühle sind nur Kopfsache? Fehlanzeige. Auch unser Körper ist maßgeblich an unserem Gefühlshaushalt beteiligt. Was jeder bestätigen wird, der schon mal eine strenge Diät gemacht hat oder tagsüber schlicht nicht zum Essen kam. Der Blutzuckerspiegel rauscht nach unten, unsere Laune tut es ihm gleich. Wir fühlen uns müde, gereizt und dünnhäutig. Halten wir unseren Körper also besser mit einer gescheiten Nahrungsauswahl bei Laune.
Abwarten und Tee trinken
Wir können unsere Gefühle nicht robotergleich steuern und das ist gut so. Doch liegt es bis zu einem gewissen Grad durchaus in unseren Händen, ob wir uns zum Spielball unserer Gefühle machen wollen oder nicht.
Ungeachtet aller großen (Social Media)Inszenierungen sind unsere Gefühle nämlich nichts, was permanent gehätschelt und gepflegt werden müsste. Zudem ist es ein netter Zug von uns, wenn wir unsere Mitmenschen nicht ungefiltert mit all unseren Emotionen konfrontieren. Vor allem nicht mit denen, die eher nach einem Boxsack verlangen. Unsere Lieben zumindest werden ihren Augen und Ohren nicht trauen, wenn der übliche Gefühlsvulkan ausbleibt und wir uns stattdessen erstmal eine Tasse Tee zubereiten. Das zumindest habe ich festgestellt, als ich anfing, mit der “90 Sekunden”-Regel und oben genannten Tipps zu experimentieren…
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