Ernährung: Der Zwang, gesund zu essen
Neulich war wieder einer dieser Tage. Ich hatte Hunger, dabei allerdings weder Zeit noch Lust, um mir „etwas Richtiges“ zu kochen. Also schob ich mir eine Tiefkühlpizza in den Ofen. Und bekam hinterher sofort ein schlechtes Gewissen. Denn wer sich mit gesunder Ernährung beschäftigt, weiß natürlich, dass so eine Pizza ein No-Go ist. Ich bin nicht stolz darauf, dass ich die Pizza gegessen habe, anstatt mir einen Salat zuzubereiten. Andererseits bin ich froh darüber, dass ich sie noch einfach so essen kann. Denn der Wunsch, sich gesund zu ernähren, kann auch gewaltig übers Ziel hinausschießen und zwanghafte Züge annehmen.
Wann wurde gesunde Ernährung so anstrengend?
Zeitschriften und Magazine sind voll mit Tipps zur richtigen Ernährung. All das ist jedoch gar nichts verglichen mit dem, was im Internet an guten Ratschlägen auf uns einprasselt. Hinsichtlich der „einzig wahren“ Ernährungsform wird ständig eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Heute vegetarisch, vegan oder vollwertig. Morgen Ayurveda, Steinzeitkost, Low Carb oder Low Fat. Nicht zu vergessen diverse Fasten- und Entschlackungskuren und das alles im Sinne der Gesundheit. Darüber hinaus stehen zunehmend neue Lebensmittel auf dem Index. Was dazu führt, dass jemand, der im Restaurant selbstverständlich in den Brotkorb greift oder ein normales Dessert ordert, im besten Fall scheele Blicke von den gesundheitsbewussten Begleitern ernten wird.
Die Werbung, die all die vermeintlich besonders gesunden Lebensmittel in den Mittelpunkt rückt, tut das Übrige, um uns zu verwirren. Ist ein einfacher Apfel noch genug oder sind unsere Böden mittlerweile so ausgelaugt, dass der eh keine Vitamine mehr enthält? Genügen normale Cerealien oder sollen es lieber die mit Vitaminen angereicherten sein? Einfacher Joghurt oder der Gesundheit zuliebe doch besser probiotischer? Es scheint, als könnten wir beim Essen so viel falsch machen – und kaum noch was richtig.
Der Weg in die krankhaft gesunde Ernährung ist schleichend
Die Verwirrung ist groß und ebenso der Wunsch, sich gesund zu ernähren. Also verschlingen Ernährungsbewusste alles, was sich mit dem Thema beschäftigt – bis es irgendwann zum Zwang wird. Auch eine geglückte Umstellung der Ernährung, die anfangs vielleicht sogar dabei hilft, bestimmte Beschwerden verschwinden zu lassen, kann Einstieg in die krankhaft gesunde Ernährung sein. Etwa indem sie den Wunsch weckt, sich noch eingehender mit dem Thema Ernährung zu befassen und vielleicht noch ein bisschen mehr für die Gesundheit zu tun. Bis dann am Ende kaum noch ein akzeptables Lebensmittel übrig bleibt und die Gedanken zwanghaft um die gesunde Ernährung kreisen. Einfach ins Restaurant gehen oder gar oben erwähnte Pizza essen? Unmöglich.
Noch gilt die zwanghaft gesunde Ernährung (Orthorexia nervosa) nicht als anerkanntes Krankheitsbild. Und doch leiden die Betroffenen enorm. Dr. Osen – Chefarzt für psychosomatische Medizin an der Schön-Klinik in Bad Bramstedt – sagt dazu:
„Die Betroffenen versuchen in übertriebener Art und Weise vermeintlich ungesunde oder schädliche Lebensmittel zu vermeiden. Und dabei kann diese Idee, gesund essen zu müssen, ein so hohes Ausmaß annehmen, dass andere wichtige Lebensbereiche, wie etwa soziale Kontakte, vernachlässigt werden.“
5 Anzeichen für ein Abdriften in die Orthorexie
Nicht jeder, der sich einfach nur gerne gesund ernährt, ist gleich ein Orthorektiker. Aber es gibt Essgewohnheiten, die ein Warnzeichen sind:
- Gegessen werden nur Lebensmittel, deren Nährwert sich genau nachvollziehen lässt.
- Akzeptabel sind nur Lebensmittel, deren Herkunft sich zweifelsfrei nachvollziehen lässt.
- Die Ernährung wird extrem einseitig.
- Es treten aufgrund der einseitigen Ernährung Mangelerscheinungen auf.
- Die Gedanken kreisen nur noch um vermeintlich gesunde Ernährung, andere Lebensbereiche geraten ins Hintertreffen.
Die zwanghaft gesunde Ernährung gilt als verhaltenspsychologische Ernährungsstörung. Und demzufolge ist es bei einem Abdriften in die Orthorexie ratsam, sich kompetente Hilfe ins Boot zu holen. Damit das Essen nicht zur Last wird, sondern mit Spaß und Genuss verknüpft ist. Denn wie sagte schon Sokrates: “Wir leben nicht, um zu essen, sondern wir essen, um zu leben.”
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