Beziehung - Kerstin Schuller
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Sex im Alter – immer noch ein Tabuthema?

Berührungen, Intimität und Sex gehören zu einem guten Leben dazu – dieser Aussage würden wohl die meisten zustimmen. Wieso aber findet Sex im Alter so wenig Platz in unseren Gesprächen, in Bildung, Pflege oder auch in Film und Fernsehen? Wer sich jetzt denkt “Naja, ältere Menschen haben ja keinen Sex”, hat weit gefehlt. Sexuelle Gedanken, Wünsche, Fantasien, Fähigkeiten und Ausdrucksformen von Erwachsenen verändern sich mit der Zeit kaum. Was sich jedoch bei den meisten ändert sind Hormone, der allgemeine Gesundheitszustand und die Möglichkeit, Sexualität gemeinsam oder in einer Beziehung zu erleben. Dies muss jedoch keineswegs zur Sex-Flaute im Alter führen, sondern erfordert oftmals lediglich ein bisschen Kreativität und Loslassen von jugendlichen Vorstellungen oder vermeintlichen Normen.

Für Sexualität, Lust und Liebe gibt es nach oben hin keine Altersgrenze

Diese wissenschaftlichen Fakten räumen mit Mythen rund um Sex im Alter auf:

  • Beginnend mit den Babyboomern blieben etwa 89% der verheirateten Frauen und 87% der verheirateten Männer im Alter von 60 bis 64 Jahren sexuell aktiv.
  • Bei über 80-Jährigen sind rund ein Drittel der Frauen und Männer sexuell aktiv.
  • Während also eher weniger darüber gesprochen wird (zumindest nicht öffentlich), wird Sexualität durchaus ausgelebt – und das sehr erfolgreich.
  • Befragungsergebnisse deuten darauf hin, dass ältere Menschen Sexualität als einen wichtigen Teil ihres Lebens betrachten. Intime Beziehungen und sexuelle Wünsche (Küssen, Kuscheln, Vorspiel, Vaginalverkehr, Oralverkehr und Masturbation) wollen von älteren Erwachsenen in ähnlicher Häufigkeit wie bei 18-59-Jährigen ausgelebt werden. Und vor allem: Das Ausleben von Sexualität ist bei älteren Erwachsenen nachweislich genauso angenehm und befriedigend wie bei jüngeren.

Liebe, Lust und Sex im Alter ist keine Seltenheit. Im Gegenteil – es ist ein grundlegender Teil des Lebens, wie auch im Leben Jüngerer. Aber warum findet das Thema so wenig Platz in unserer Gesellschaft und warum ist das für viele so schwer vorstellbar?

Warum kaum jemand über Sex im Alter spricht

Kindliche Vorstellungen

Warum viele Menschen nicht über Sex bei älteren Menschen nachdenken oder darüber sprechen wollen, hat sowohl offensichtliche als auch komplexe Gründe. Unsere Vorstellungen gegenüber Eltern oder Großeltern entspringen teilweise noch aus unserer eigenen kindlichen Entwicklung. Das ist auch ganz normal – schließlich erinnert uns die Sexualität unserer Eltern als Kinder daran, dass wir von wichtigen Aspekten erwachsener Beziehungen ausgeschlossen sind.

Tiefsitzende Überzeugungen

Ein weiterer Grund, warum es schwierig ist, Sexualität in älteren Generationen anzuerkennen, hat damit zu tun, dass Frauen vor der sexuellen Revolution nicht ermutigt wurden, ihre Sexualität auszuleben. In den 1950er-Jahren und vielerorts bis in die 1970er-Jahre galt Sexualität mit allem was dazugehört als sündig und schmutzig. Ein solches kulturelles Verbot führte bei vielen älteren Frauen dazu, dieses normale menschliche Bedürfnis und natürliche Verlangen bis heute zu verleugnen.

Jugendliche Norm

Außerdem leben wir in einer überwiegend jugendorientierten Gesellschaft. Dies führt dazu, dass Sex ebenfalls meist mit Jugend assoziiert wird: Glamouröse Filmstars, sexy Models, Influencer:innen etc. Leider hat das Unbehagen, das viele Menschen in Bezug auf Sexualität von älteren Menschen empfinden, vielerorts zu einer Art Diskriminierung geführt: Senior:innen in Pflegeeinrichtungen haben oftmals zu wenig Privatsphäre oder keine Möglichkeiten normales Sexualverhalten ausüben. Und ganz allgemein ist Sexualität im Alter in unserer Gesellschaft unsichtbar.

Gesundheitliche Vorteile von Sex im Alter

Dabei gibt es viele Gründe, Tabus rund um Sex im Alter von 60+ zu brechen: Sexuelle Gesundheit beeinflusst mehrere Lebensbereiche positiv. Viele von uns zählen Nähe, Intimität und Sex neben Schlafen, Essen und Trinken zu einem Grundbedürfnis. Gerade im Alter ist es wichtig, Berührungen und körperliche Nähe aufrecht zu halten, um mental und körperlich gesund zu bleiben. Jüngste Studien zeigen nämlich, dass die Aufrechterhaltung von körperlicher Nähe und sexueller Intimität im Alter mit einer Reihe von Vorteilen für das psychologische und physiologische Wohlbefinden verbunden ist, wie z. B. einer verbesserten Lebensqualität, psychischem Wohlbefinden sowie einem geringeren Risiko für bestimmte Krebsarten und tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Außerdem soll sexuelle Aktivität im Alter sogar die Gehirnfunktion bei fördern.

Herausforderungen für sexuelle Unbeschwertheit im Alter

Psychische Erkrankungen, partnerschaftliche Probleme oder Ängste wirken sich – genau wie bei jüngeren Menschen – stark auf das Liebesleben aus, können aber bei professioneller Begleitung in jedem Lebensalter behandelt werden. Neben altersbedingten körperlichen Einschränkungen, die das gewohnte Sexualleben verändern können, sind es vor allem Krankheiten, die zur Belastungsprobe in Sachen Sex werden können. Viele körperlich eingeschränkte oder (ehemals) kranke Personen, wie z.B. Krebspatient:innen, leiden auch besonders unter Mythen rund um das Thema Sexualität, die zumeist in den Köpfen Nicht-Betroffener entstehen. Hier gilt es, ein professionelles Unterstützungsangebot für Betroffene zu schaffen, das nicht nur auf die körperliche Rehabilitation fokussiert, sondern auch soziale und psychologische Aspekte der Aufrechterhaltung oder Wiedererlangung von Sexualität mit einbezieht.

Instahelp leistet dazu einen entscheidenden Beitrag: Wir forschen gemeinsam mit Expert:innen zum Thema Sex, Beziehungen, sexuelle Gesundheit im Alter.

 

Über unser Forschungsprojekt Anathema

“Anathema” steht für “Tabu” – genau dieses Tabu um Sexualität im Alter wollen wir brechen. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut Portugal erforschen wir in einem zweijährigen Projekt Anathema , wie sexuelle Gesundheit im Alter mit Hilfe technologiegestützter Interventionen gelingen kann. Das Ziel von Anathema ist es, herkömmliche Face-to-Face-Angebote zur Förderung der sexuellen Gesundheit durch digitale Technologien zu erweitern, um sie für ältere Erwachsene und ihre Partner:innen integrativ und ansprechend zu gestalten. Dabei fokussieren wir uns nicht nur auf Erwachsene 55+, sondern darüber hinaus auch auf Personen mit bzw. nach einer Darmkrebs- oder Schlaganfall-Erkrankung. Alle Materialien und Übungen, die wir im Zuge des Projektes erarbeiten und validieren, werden auch über die Beratung bei Instahelp verfügbar sein.

Quellen

Sexuality in older adults: Clinical and psychosocial dilemmas
Dhingra, I., De Sousa, A., & Sonavane, S. (2016). Journal of Geriatric Mental Health, 3(2), 131-139. DOI: 10.4103/2348-9995.195629

Stulhofer, A., Hinchliff, S., Jurin, T., Hald, G. M. & Traeen, B. (2018). Successful Aging and Changes in Sexual Interest and Enjoyment Among Older European Men and Women. Journal of Sexual Medicine, 15(10):1393-1402. DOI: 10.1016/j.jsxm.2018.08.011

Fotoquelle: (c) pixabay.com/users/sabinevanerp

Erstellt am: 14. Juli 2021