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Der Weihnachtsblues – warum Weihnachten nicht für jeden ein Fest der Liebe ist

“I’m driving home for Christmas” heißt es in einem bekannten Lied, in dem die Sehnsucht beschrieben wird, das Weihnachtsfest im Kreise der lieben Familie zu verbringen. Besonders zu Weihnachten sehnen wir uns nach Harmonie und einem guten Miteinander. Jedoch beginnt für viele Menschen mit der Adventszeit die schwierigste Zeit im Jahr. Warum Weihnachten auch eine Belastung darstellen kann und wie man am besten damit umgeht, erklärt uns die Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin Dr. Birgit U. Stetina.

Warum ist die Weihnachtszeit oft mit einem Hauch von Melancholie verbunden?

Dr. Stetina: Weihnachten, so wie auch ein lang geplanter Urlaub, ist eine von vielen Menschen idealisierte Zeit. Nicht nur zu den feierlichen Tagen, auch in den Wochen rundherum wünschen wir uns Harmonie, Vertrautheit und Zuneigung. Wir haben eine Idealvorstellung, die durch Medien geprägt ist und wenig mit dem realen Leben zu tun hat.

Ganz abgesehen davon, dass es viele Personen gibt, die keine vertrauten Menschen haben, mit denen sie die Feiertage verbringen wollen oder können, ist es auch für Personen mit einer kleinen oder großen Familie sehr schwer – eigentlich unmöglich – einem Idealbild gerecht zu werden. Gemeinsames Feiern im Kreise der Lieben bedeutet auch sehr viel Stress. Der Wunsch nach Harmonie lässt mögliche vorhandene Konflikte nicht verschwinden, sie sind nur noch schwieriger auszuhalten (auch wenn sie vielleicht gar nicht ausgetragen werden). Zudem kommt noch der finanzielle Druck, Geschenke machen zu wollen, einen Weihnachtsbaum zu schmücken und ein besonderes Weihnachtsessen zu organisieren.

Dies sind nur Beispiele und bereits dadurch wird klar, wie sehr eine Nichterfüllung der Idealvorstellung zu einer schlechten Stimmung führen kann. Niedergeschlagenheit, Scham- und Schuldgefühle sind gut nachvollziehbar.

Doch wo hört die Melancholie auf und wann sollte man die Warnzeichen ernst nehmen? Gibt es so etwas wie eine Weihnachtsdepression?

Dr. Stetina: Wenn es mehr als das Gefühl von „Melancholie“ ist und die empfundenen Symptome einer Depression ähneln, sollten wir die Warnzeichen ernst nehmen und Hilfe aufsuchen.[1]

Aus klinisch-psychologischer Sicht diagnostizieren wir keine Weihnachtsdepression, aber es gibt die häufig so bezeichnete „Herbst-Winterdepression“. Die Symptomatik beinhaltet Hypersomnie (Schlafsucht), vermehrten Appetit, meist begleitet vom Verzehr bestimmter Nahrung (hauptsächlich Kohlenhydrate), Gewichtszunahme, erhöhte Reizbarkeit, interpersonelle Schwierigkeiten (besonders Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung) und Schweregefühl (die Extremitäten werden als „schwer wie Blei“ empfunden). Im Frühling/Sommer verbessern sich diese Symptome erheblich und kehren dann manchmal im Herbst/Winter wieder zurück. Als ein wichtiger Auslöser wird das mangelnde Licht im Herbst und Winter gesehen.

Neben dieser klinisch relevanten Diagnose muss zusätzlich erwähnt werden, dass bereits Hippokrates saisonale Stimmungsschwankungen beschrieben hat. Es gibt also ganz unabhängig vom Weihnachtsfest bereits schon sehr frühe Aufzeichnungen über Veränderungen der Stimmung im Winter. Diese Stimmungsveränderung kennen viele Menschen von sich selbst, auch wenn es in vielen Fällen gar kein klinisch relevantes Problem ist. Wenn wir eine Möglichkeit haben, auch im Winter unsere Stimmung durch kleine angenehme Tätigkeiten zu verbessern, ist es ein gutes Zeichen.

Welche Personen sind besonders anfällig für den Weihnachtsblues?

Dr. Stetina: Menschen mit wenig Kontakt zu anderen Personen, die einsam oder unglücklich sind, sind ein Teil der Risikogruppe; Personen, von denen in dieser Zeit viel erwartet wird und an welche hohe Anforderungen gestellt werden (Mütter und Hausfrauen beispielsweise). Aber auch Personen, die beruflich belastet sind und dann durch kleine Veränderungen ihres Idealbildes von Weihnachten unter Umständen überfordert sein können.

Das Jahresende ist bei vielen Unternehmen auch häufig mit zusätzlichem Stress verbunden – Budgetplanung, Projektabschlüsse, Kündigungen etc. Kann man hier sogar von einer Doppelbelastung für die Mitarbeiter sprechen?

Dr. Stetina: Berufliche Belastung kann besonders zu Weihnachten dazu führen, dass Personen verzweifeln, keine Handlungsmöglichkeiten mehr sehen und dann Stresserkrankungen auftreten, die langfristige Folgen für die MitarbeiterInnen und das Unternehmen mit sich bringen. Es kann auf jeden Fall von einer Doppelbelastung gesprochen werden, da, wie bereits erwähnt, der familiäre und gesellschaftliche Druck grundlegend sehr hoch in dieser Zeit des Jahres sind.

Welche Alltagstipps würden Sie empfehlen, um den Weihnachtsstress zu umgehen?

Dr. Stetina: Es gilt, das eigene Bild von Weihnachten zu reflektieren, darüber nachzudenken, was uns wirklich wichtig ist und nicht zu vergessen, die schöne Zeit zu genießen – das ist das offene Geheimnis für eine entspannte gemeinsame Zeit. Angenehme Tätigkeiten nur mit sich selbst zu planen, sich selbst zu beschenken, beispielsweise mit einer Ruhepause vom stressigen Alltag und Sport, können uns helfen, unsere Perspektive immer wieder zurecht zu rücken. Und wenn es wirklich mal zu einer schwierigen Situation kommt, gilt es entsprechende Hilfe aufzusuchen – von Bekannten, Freunden, Familie oder auch ProfessionistInnen.

Frau Dr. Birgit U. Stetina ist seit November 2015 als Instahelp Psychologin tätig und Leiterin der Abteilung “Klinische Psychologie” an der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien.

[1] Bei den typischen leichten, mittelgradigen oder schweren Episoden leidet der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten “somatischen” Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust. Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer zu bezeichnen.

 
Fotoquelle: iStock.com/martin-dm

Aktualisiert am: 9. Dezember 2022