13 Minuten Lesezeit

Therapie bei narzisstischen Eltern – Ein Erfahrungsbericht

Der Umgang mit narzisstischen Menschen kann sehr herausfordernd sein. Insbesondere dann, wenn man in einer engen Beziehung mit diesen Personen steht oder familiär verbunden ist. Wie belastend das Heranwachsen und Leben mit narzisstischen Eltern ist und wie eine Therapie bei Narzissmus helfen kann, erfährst du in diesem Erfahrungsbericht.

Beinahe jede:r berichtet, schon Kontakt mit einem Narzissten oder einer Narzisstin gehabt zu haben. Viele waren in einer Beziehung mit jemandem mit narzisstischen Persönlichkeitseigenschaften und so gut wie alle haben schon davon gehört. Heißt das, wir sind alle irgendwie narzisstisch? Ja und Nein – denn so gut wie jeder Mensch trägt narzisstische Anteile in sich. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, wie wir sie aus der Psychiatrie kennen, kommt glücklicherweise aber nur sehr selten vor und ist ein Extremfall. Im Gegensatz zu Personen mit narzisstischen Anteilen erleben Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung häufig deutliche Einschränkungen in der Fähigkeit, soziale Beziehungen zu pflegen oder den Alltag bei einer guten Lebensqualität zu bewältigen. Sie leiden oft unter einem extrem niedrigen Selbstwert und sind verzweifelt auf der Suche nach Anerkennung von außen.

 

Online-Therapie bei narzisstischen Eltern

Mein Name ist Kerstin – ich bin Instahelp Psychologin und darf in der Online-Beratung Erwachsene zu unterschiedlichen Themen und Fragestellungen beraten. Das Selbst- und Fremdbild, das Leben in Beziehungen und der Umgang mit starken Emotionen spielen meistens eine große Rolle. Gerade wenn es um Narzissmus in Beziehungen geht, sehen sich Betroffene vor einer großen Herausforderung. Wie eine Beratung in so einer Situation helfen kann, das darf ich dir in diesem Erfahrungsbericht erzählen.

Der erste Kontakt:

Eines Abends erreichte mich folgende Nachricht*:

Liebe Kerstin! Ich bin 18 Jahre alt und habe gerade begonnen, Kommunikationswissenschaften zu studieren. Ich wohne noch bei meinen Eltern, was sich zunehmend als schwierig herausstellt. Sie setzen mich mit dem Studienerfolg so sehr unter Druck, da nur das Beste gut genug für sie ist. Manchmal denke ich, sie akzeptieren mich nur, wenn ich perfekt funktioniere. Und auch wenn ich dann erfolgreich bin, ist mein Vater nicht etwa stolz auf mich, sondern prahlt, wie wichtig sein Beitrag dazu war. Ich halte das echt nicht mehr aus! Immer öfter geraten wir aneinander, doch sobald ich mich wehre, regt sich mein Vater maßlos auf. Ich ziehe mich immer mehr zurück. Auch meine Mutter ist hier keine große Hilfe, da sie sich ihm immer unterordnet. Ich liebe meine Eltern, aber wenn das so weitergeht, werde ich mir eine WG suchen. Warum ist mein Vater so? Und warum kann ich ihm nicht einfach die Stirn bieten? Bitte hilf mir! Liebe Grüße Leon*.

 

Leon* beschreibt in seiner ersten Nachricht einen Vater, der sehr hohe Erwartungen an seinen Sohn hat. Gleichzeitig ordnet er Erfolge nicht bei ihm, sondern bei sich selbst ein. Eine andere Meinung als die eigene wird nicht akzeptiert. Leistungsdruck und Perfektionismus stehen an der Tagesordnung. In meinem Kopf tauchte sofort der Gedanke auf: “So ein Narzisst!” Natürlich ist das anhand dieser kurzen Nachricht überhaupt nicht einzuschätzen. Daher habe ich Leon einen Termin vorgeschlagen, um persönlich über die Beziehung zu seinen Eltern zu sprechen.

↑ Zurück zum Anfang

Narzisstische Eltern erkennen

Den ersten direkten Kontakt mit Leon hatte ich im Video-Call. Hier hatte er die Gelegenheit, mir ein detailliertes Bild der Situation zu schildern. Meine Vermutung, dass der Vater zumindest narzisstische Tendenzen habe, wurde durch seine Ausführung bestärkt. Besonders ausschlaggebend waren für mich folgende Punkte:

  • Selbstüberschätzung: Laut Leons Erzählungen sieht der Vater sich selbst als wichtigste Person der Familie und ist – zumindest nach außen – stark von sich selbst überzeugt. Seine eigenen Leistungen betont er, während er die Erfolge von anderen schmälert.
  • Bedürfnis nach Bewunderung: Leons Vater ist stark von der Anerkennung anderer abhängig. Er liebt es, im Mittelpunkt zu stehen und sich anhimmeln zu lassen. Wird ihm dieser Ruhm verwehrt, reagiert er aggressiv und verletzend.
  • Mangel an Empathie: Die Gefühle anderer sind ihm vollkommen egal. Er hat keine Fähigkeit und auch keinen Willen, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen. Dies führt dazu, dass es in der Familie häufig Streit gibt, der meistens darin endet, dass Leon oder seine Mutter weinend den Raum verlassen.
  • Manipulation und Ausnutzung: Wenn Leons Vater möchte, kann er charmant und freundlich sein und alle um sich herum verzaubern. Er bekommt immer was er will, weil er ein Meister der Manipulation ist. Er weiß genau, wie er seine sozialen Beziehungen so nutzen kann, dass er das Maximum für sich erreicht.
  • Neid und Eifersucht: Er ist unfähig, sich mit anderen zu freuen oder andere Erfolge zu schätzen. Personen, die besser sind als er, macht er systematisch runter, damit er sich nicht in deren Schatten stellen muss.

Gibt es eine Therapie bei Narzissmus in der Eltern-Kind-Beziehung?

Der Fokus in dieser Eltern-Kind-Beziehung ist also überhaupt nicht auf das Wohl von Leon ausgerichtet, sondern fast ausschließlich darauf, wie es seinem Vater geht und wie er stets im besten Licht stehen kann. Diese Anzeichen sprechen sehr stark für eine narzisstische Persönlichkeit, wobei es als Psychologin natürlich unmöglich ist, eine Diagnose zu stellen, ohne die betroffene Person je gesehen zu haben. So habe ich es auch Leon erklärt:

“So, wie du deinen Vater beschreibst, hat er starke narzisstische Anteile. Das kann in der Beziehung sehr herausfordernd sein. Wir werden deinen Vater aber nicht ändern können. Lass uns also gemeinsam einen Weg finden, wie du mit seinem Verhalten in Zukunft besser umgehen kannst.”

 

↑ Zurück zum Anfang

Narzisstischen Eltern: Folgen

In der Beratung war es wichtig für mich, herauszufinden, welche Folgen das Verhalten von Leons Vater auf seine Entwicklung ausgeübt hat. Anhand dessen wollte ich einen Plan und ein Ziel für die Beratung erarbeiten. Es hat einige Gespräche erfordert, um mir davon ein realistisches Bild schaffen zu können. Folgende Dinge sind mir dabei aufgefallen:

  • Umgang mit Bedürfnissen und Gefühlen: Leon ist in einem Umfeld aufgewachsen, in dem seine eigenen Bedürfnisse nur wenig Raum einnehmen durften. Starke Gefühle wurden nicht gerne gesehen und stets als ein Zeichen von Schwäche dargestellt. Unterstützung gab es dabei kaum. Dies hat zur Folge, dass Leon auch heute noch keinen Zugang zu seinen eigenen Bedürfnissen hat und unangenehme Gefühle meist unterdrückt. Ein adäquater Umgang damit wurde ihm nie ermöglicht.
  • Verlust der Identität: Um seinem Vater zu gefallen und dessen Erwartungen zu entsprechen, hat Leon seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse nie wahrgenommen. Persönliche Interessen, Vorlieben oder ein Hobby, das ihn erfüllt, waren unerreichbar für ihn. Er hat sich stets daran orientiert, was der Vater gut findet oder worin er Bestärkung erfahren hat. Dies hat dazu geführt, dass er keine eigene Identität entwickeln konnte und nicht weiß, was er eigentlich selbst vom Leben will.
  • Selbstwert: Leon ist sich selbst nie gut genug, weil er absolut überhöhte Ansprüche an seine eigenen Leistungen stellt. Er hat den Perfektionismus seines Vaters übernommen und kann sich selbst über seine eigenen Erfolge nicht freuen. Das Gefühl von Stolz kennt er nicht.
  • Unsichere Beziehungen: Freundschaften und Beziehungen aufrecht zu erhalten, fällt Leon schwer, weil er kein Vertrauen in andere Menschen hat. Er ist sehr konfliktscheu und schafft es daher kaum, eigene Bedürfnisse zu artikulieren. Darum fühlt er sich in Beziehungen nicht verstanden und eingeengt, was dazu führt, dass er sich immer mehr zurückzieht.
  • Emotionale Instabilität: Da Leon nie gelernt hat, seine Gefühle anzunehmen und zu artikulieren, kann er auch heute nicht damit umgehen, wenn er sich emotional aufgewühlt fühlt. Er unterdrückt seine Emotionen, was zu psychosomatischen Beschwerden führt, die er als Bauchschmerzen und Verspannungen wahrnimmt.

Therapie bei Depressionen, Ängsten und Problemen mit dem Selbstwert

Das Aufwachsen im Schatten einer narzisstischen Person kann schwerwiegende Folgen für die mentale Gesundheit haben und zu Depressionen, Angststörungen oder Selbstwertproblemen führen. Das narzisstische Verhalten seines Vaters hat auch bei Leon tiefe Spuren hinterlassen. Ich wusste, dass es einen längeren Prozess erfordert, um all diese Themen aufarbeiten und behandeln zu können.

Manifestierte Glaubenssätze

In der Planung der Beratung habe ich Leon ehrlich mitgeteilt, dass es zwar nicht unmöglich, aber herausfordernd sein kann, Prägungen aus der Kindheit aufzulösen. Muster und Glaubenssätze, die sich über Jahre manifestiert haben, können nicht in wenigen Wochen einfach ausgelöscht werden. Und dennoch konnte ich Leon versichern, dass es durchaus möglich ist, ein starkes Selbstbild zu finden und sich gegen das toxische Verhalten seines Vaters zu wehren, ohne die Beziehung abbrechen zu müssen.

↑ Zurück zum Anfang

Therapie bei narzisstischen Eltern: Selbstfürsorge

Bevor wir uns mit dem konkreten Verhalten des Vaters sowie Leons Umgang damit auseinandersetzten, haben wir uns die einzelnen Themen herangezogen, die ihn selbst geprägt haben. Auch wenn es durchaus möglich ist, eine narzisstische Person zu therapieren, war der Fokus in meiner Beratung natürlich das Wohlbefinden von Leon zu fördern und nicht den Vater zu verändern. In der Beratung sind wir dabei so vorgegangen:

Emotionsregulation

Bevor ich Leon verschiedene Strategien zeigen konnte, wie man starke Gefühle regulieren und damit umgehen kann, musste er lernen, einen Zugang zu seinen Emotionen herzustellen. Dazu haben wir uns am Anfang jeder Stunde folgenden Fragen gewidmet:

  1. Was war das stärkste Gefühl der letzten Tage? Was fühle ich gerade?
  2. Wo in meinem Körper habe ich diese Gefühle wahrgenommen?
  3. Warum sind diese Gefühle aufgetaucht?
  4. Was brauche ich in diesem Moment?
  5. Welche Gedanken begleiten dieses Gefühl?
  6. Was verstärkt oder lindert dieses Gefühl?
  7. Was will mir das Gefühl sagen? Was könnte es Positives bringen, so zu fühlen?

Aufbau von Selbstwert und Identität

Häufig kommt es vor, dass Kinder narzisstischer Eltern ihr eigenes Selbst verlieren, da sie bestmöglich den Erwartungen der Mutter oder des Vaters entsprechen wollen. Durch das Erkunden von Werten, Interessen und Lebenszielen haben wir in der Beratung an der Entwicklung eines stabilen Selbstbildes und einer Identität gearbeitet. Die Identifikation mit eigenen Stärken und Talenten war ein Baustein in der Stärkung des Selbstwertes.

Förderung von gesunden Beziehungen

Das soziale Umfeld spielt in der Therapie von narzisstischen Folgeerscheinungen eine wichtige Rolle. Gesunde Beziehungen können dazu beitragen, vergangene Verletzungen zu heilen und ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Für Leon war es sehr wichtig, in der Beratung ungesunde Beziehungsmuster zu identifizieren. Dies ist uns gelungen, indem wir eine Verbindung herstellen konnten zwischen vergangenen Kindheitserfahrungen und Verhaltensmustern in der Gegenwart. Als Leon verstanden hatte, warum er in manchen Situation auf eine spezielle Art und Weise fühlt, konnten wir diese alten Glaubenssätze identifizieren und langsam durch neue ersetzen.

↑ Zurück zum Anfang

Therapie bei narzisstischen Eltern: Umgang mit den Betroffenen

Im nächsten Schritt war es wichtig, Leon Strategien an die Hand zu geben, wie er sich vor den toxischen Verhaltensweisen seines Vaters schützen kann. Dabei kamen unter anderem folgende Techniken zum Einsatz:

Reframing

Auch wenn es anfangs schwierig war, so haben wir im Gespräch versucht herauszufinden, welche positiven Auswirkungen das narzisstische Verhalten von Leons Vater mit sich gebracht haben könnte. Und tatsächlich hat er erkannt, dass zwar vieles verletzend, aber nicht alles schlecht war. Er hat erkannt, dass das Verhalten seines Vaters zumindest zum Teil auch daher rührte, dass er sich für Leon eine gute Zukunft gewünscht hatte und damit eigentlich etwas Positives erreichen wollte. Leider hat sein Vater es in vieler Hinsicht komplett falsch ausgelebt.

Es kann sehr heilsam sein, die Kindheit auch in diesem Rahmen zu sehen, um versöhnlich auf die Vergangenheit zurückblicken zu können. Dies war besonders für Leon von Bedeutung, da es ihm wichtig war, auch weiterhin einen guten Kontakt zum Vater zu pflegen.

Klare Grenzen setzen

Es klingt so einfach und kann doch so schwer sein. Gerade mit manipulativen Eltern kann es sehr wichtig sein, deutliche Grenzen zu setzen und diese auch zu artikulieren. Häufig erleben narzisstische Eltern ihre Kinder als Verlängerungen ihrer Selbst, was dazu führt, dass die Kinder keine eigenen Grenzen wahrnehmen. Auch bei Leon war ein ähnliches Muster zu beobachten, weshalb wir daran gearbeitet haben, gesunde Grenzen zu definieren. Dazu kann auch ein Satz gehören wie:

“Ich brauche jetzt eine Pause und melde mich später wieder”

 

Die Grey-Rock-Methode

Kommunikation spielt in allen Beziehungen eine wichtige Rolle, insbesondere bei narzisstischen Personen. Bei der Grey-Rock-Methode geht es darum, bewusst gelassen und distanziert auf Provokationen und Manipulationsversuche zu reagieren, damit die Personen daraus keine Energie ziehen können. Im besten Fall merken sie bewusst oder unbewusst, dass die Provokation keinen fruchtbaren Boden findet, und sie lassen zukünftig davon ab.

Um diese Methode zu manifestieren, habe ich mit Leon folgende Imaginationsübung durchgeführt:

Stelle dir vor, du bist ein großer grauer Felsen mitten im Meer. Das Wasser umschmiegt deinen Rand, die Wellen prallen an dir ab. Du bist solide, ruhig und unbeeindruckt von den immensen Wassermengen um dich herum – ohne dich auch nur ein Stück zu bewegen, kann auch die höchste Welle dir nichts anhaben. Erinnere dich jetzt an eine Aussage von deinem Vater, die dich verärgert hat und formuliere einen ruhigen, kurzen und neutralen Satz, den du ihm gerne geantwortet hättest. Achte bewusst auf die Emotionen, die aufkommen, wenn du an diese Szene denkst und sage zu dir “Ich bin ruhig und neutral, wie ein grauer Fels. Mich kann nichts aus der Ruhe bringen”. Halte das Bild von dem grauen Felsen noch einen Moment fest und kehre dann langsam wieder ins Hier und Jetzt zurück.

 

↑ Zurück zum Anfang

Vorteile der Online-Therapie bei narzisstischen Eltern

Die Beratung mit Leon hat sich über einige Wochen gestreckt, in denen wir intensiv an seinem Umgang mit den problematischen Verhaltensweisen seines Vaters gearbeitet haben. Nach einiger Zeit haben wir reflektiert, was für ihn besonders hilfreich in der Beratung war und welche Aspekte ihn weitergebracht haben. Diese Punkte hat er mir genannt:

  • Einen anderen Blick auf die Kindheit zu bekommen und nicht nur negativ auf diese Zeit zurückblicken
  • Durch gesunde Grenzen eine stabile, aber distanzierte Beziehung zum Vater aufbauen, in der er sich wohl fühlt
  • Offen darüber reden zu können, wie er sich fühlt und zu lernen, mit diesen Gefühlen umzugehen
  • Flexibel von zu Hause aus sprechen zu können, ohne eine Therapie vor Ort aufsuchen zu müssen
  • Zu erfahren, dass er gar nicht so perfekt sein muss, um geliebt zu werden und dass er auch ohne Leistung ein wertvoller Mensch ist

↑ Zurück zum Anfang

*Name von der Redaktion geändert/Die Veröffentlichung der Nachricht erfolgt mit ausdrücklicher Genehmigung des Klienten. Zum Schutz seiner Privatsphäre wurden persönliche Details anonymisiert.

Fotocredits: https://www.canva.com/p/gettyimages/

Aktualisiert am: 15. Oktober 2024
Familie - Kerstin Schuller