Verzeihen – gar nicht so einfach
Für jede Lebenslage gibt es das passende Zitat. Und für manche Lebenslagen mehr Zitate, als wir ertragen und umsetzen können. Das Verzeihen ist so ein Bereich, der – hielten wir es denn mit all den klugen Worten – überhaupt kein Thema wäre. Konfuzius sagt: „Es schadet nichts, wenn einem Unrecht geschieht. Man muss es nur vergessen können.“ Und für Hannah Arend ist das Verzeihen gar ein Akt der Güte uns selbst gegenüber. Weise Worte und so nachvollziehbar, dass wir aufs Verzeihen eigentlich ganz wild sein müssten. In der Theorie. Wäre da nicht die Praxis.
Allheilmittel oder Schreckgespenst?
Besonders in spirituellen Kreisen scheint das Verzeihen ein Allheilmittel zu sein. Wer nicht vergeben kann, wird – überspitzt formuliert – unweigerlich verbittert und einsam enden oder vorher an seinem Groll ersticken. Eine Vorstellung, die einen schon unter Druck setzen kann. Doch wie sieht es aus, dieses Verzeihen? Müssen wir auf Kissen einprügeln oder uns beim Waldspaziergang alles von der Seele schreien? Unsere Geschichten so lange umschreiben, bis sie weniger schmerzhaft sind? Uns in ellenlangen Briefen, die wir nie abschicken werden, Wut und Verzweiflung von der Seele schreiben?
Oder nehmen wir uns gleich ein schier unerreichbares Vorbild wie Nelson Mandela? Er dachte nach 27-jähriger Haft angeblich weder an Rache noch forderte er Vergeltung. Und schrieb selbst während seiner 10.052 Tage hinter Gefängnismauern noch Briefe, in denen er andere aufmunterte. Vergebung – ein heroischer Akt übermenschlicher Güte und Größe? Jein. Unsere Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Gut möglich, dass scheinbar unüberwindbare Hürden auf uns warten. Allerdings beinhaltet das Verzeihen zum Glück nicht nur Übermenschliches. Es beginnt schon im Kleinen. Jeden Tag.
Aus Mücke wird Elefant
Täglich stolpern wir über kleine Ärgernisse, die wir fortan unversöhnlich mit uns herumtragen. Ins Café schleppen wir die Nachbarin mit, über die wir uns vorhin geärgert haben. Und beim Joggen zerren wir unseren Herzensmenschen hinter uns her, der uns seit Tagen zur Weißglut treibt. Überhaupt reisen wir gerne mit schwerem Gepäck. Könnten unsere Gedanken plötzlich Gestalt annehmen, wären wir umringt von verpatzten Urlauben, grauenvollen Familientreffen und verpassten Chancen. Nicht zu vergessen völlig Fremde, die uns mit einer pampigen Antwort oder einem unfreundlichen Blick irritiert haben. Die schleppen wir auch mit und machen uns das Leben damit unnötig schwer.
Verzeihen light
Gerade die kleinen alltäglichen Ärgernisse sind wunderbare Sparringspartner, wenn wir uns in der Kunst des Verzeihens üben wollen. Für den Anfang genügt es, wenn wir uns bewusst machen, was uns da gerade die Laune verhagelt. Und wenn es uns gelingt, lassen wir gleich ein paar der ungebetenen Gedanken-Gäste los. Uns zuliebe. Wir verzeihen der Nachbarin und mit dem Herzensmenschen werden wir wohl reden müssen, weil stiller Ärger alleine nicht hilft. Anschließend verzeihen wir uns dafür, dass wir uns tatsächlich immer noch über verpasste Chancen ärgern. Was sinnlos ist, da wir die Vergangenheit leider nicht mehr ändern können und uns stattdessen mit unserem Groll auch noch die Gegenwart vermiesen. Möglicherweise sogar die Zukunft, denn mit freiem Kopf und weniger schwerem Herzen treffen wir bessere Entscheidungen.
Verzeihen – die große Herausforderung
Mit ein wenig Übung gehen wir entspannter und weniger nachtragend durch den Alltag. Bleiben nicht mehr zwanghaft an jedem Ärgernis kleben. Und wenn es uns gelingt, die kleineren und größeren Alltagsärgernisse nicht mehr im Geiste zu katalogisieren und zu archivieren, fällt der nächste Schritt ein wenig leichter. Das Verzeihen der herben Nackenschläge, die uns das Leben verpasst. Wir werden verletzt, enttäuscht, lächerlich gemacht, betrogen oder gedemütigt. Vielleicht hatten wir auch nicht die Kindheit, die wir hätten haben sollen. Selbst wenn wir nicht in einem filmreifen Akt die Tür zugeschmettert und „Das verzeihe ich dir niemals!“, gebrüllt haben, dürfte sich über die Jahre einiges an Groll angesammelt haben. Den wir in uns hineinfressen und der vor allem uns schadet und weniger denen, gegen die er sich richtet.
Die vier Phasen des Vergebens
Je gewichtiger das ist, was wir zu verzeihen haben, desto weniger hilfreich sind unrealistische Erwartungen. Es geht nicht schnell und es gelingt auch nicht auf Knopfdruck. Wahrscheinlicher ist, dass der Akt des Verzeihens mehrere Etappen benötigt. Der südafrikanische Menschenrechtler Desmond Tutu etwa benennt in seinem „Das Buch des Vergebens“ vier Schritte des Verzeihens:
- Die Geschichte erzählen,
- den Schmerz benennen,
- verzeihen oder Vergebung schenken,
- die Beziehung neu definieren.
Auch die Psychoanalytikerin Clarissa Pinkola Estés schlägt in ihrem Buch “Die Wolfsfrau” vier Phasen der Vergebung vor. Nachdem wir unsere Geschichte oft genug erzählt haben, geht es wie folgt weiter:
- Die Sache ruhen lassen,
- von Racheplänen und Strafmaßnahmen absehen,
- die Erinnerungen nicht mehr heraufbeschwören,
- die Schuld vergeben.
Es braucht Zeit
Wir benötigen nicht viel Phantasie, um uns auszumalen, dass der Akt des Vergebens nichts ist, was sich mal eben übers Knie brechen lässt. Oder innerhalb von zwei Tagen zu den Akten gelegt werden kann. Entscheiden wir uns bewusst dafür, jemandem zu verzeihen, richten wir uns besser auf einen längeren Weg und gelegentliche Rückschläge ein. Stellt sich die Frage: Warum sollen wir diese Mühe überhaupt auf uns nehmen? Weil wir es für uns tun. Das, was damals geschehen ist, können wir nicht ändern. Wir können aber überlegen, wie wir jetzt damit umgehen wollen. Denn:
„Vergebung verändert nicht die Vergangenheit, aber sie bereichert die Zukunft.“ (Les Brown)
Unsere Zukunft.
Ist ein gutes Leben wirklich nur möglich ist, wenn wir alles verzeihen? Und wie sieht es überhaupt aus, dieses Verzeihen? Dazu demnächst mehr vom Team der Instahelp-Psychologen.
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