Selbstwert - Sabine Otremba
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5 Fragen, die ich als introvertierter Mensch nicht mehr beantworten möchte

An manchen Tagen bin ich es leid, mich in einer Welt behaupten zu müssen, in der es scheinbar nur darum geht, möglichst laut „Hier bin ich!“ zu schreien und sich in den Mittelpunkt zu drängen. Als introvertierter Mensch meide ich das Rampenlicht, wann immer es mir möglich ist, und fühle mich oft genug anders als andere, die mit alldem scheinbar keine Probleme haben. Ich gebe mir auch beste Mühe, mir meine Introversion nicht sofort anmerken zu lassen, weil man in einer Welt wie dieser damit nicht wirklich weiterkommt. Oder erstmal für langweilig und arrogant gehalten wird, weil der berühmte erste Eindruck mal wieder danebenging.
Doch wenn ich dann noch – bei aller Mühe, meine Introversion zu kaschieren – mit den typischen Fragen konfrontiert werde, die nur ein extrovertierter Mensch stellen kann, möchte ich am liebsten schreien. Manchmal bin ich versucht, diese Fragen nebst meiner Antworten in ausgedruckter Form bei mir zu tragen, quasi als Gebrauchsanweisung für introvertierte Menschen, und das würde sich dann so lesen:

  • Findest du es normal, so wenig unter Menschen zu gehen? Ja. Das Zusammensein mit anderen Menschen laugt mich aus und strengt mich an. Denn während andere ihre Batterien beim Zusammensein mit anderen Menschen aufladen, entleeren sich meine. Und um meine Batterien wieder aufzuladen, muss ich viel Zeit mit mir alleine verbringen und meine Ruhe haben. Ich ziehe Kraft aus der Stille.
  • Warum bist du so oft online, anstatt dich mit „echten Menschen“ zu treffen? Weil die sozialen Netzwerke ein wunderbarer Ort für introvertierte Menschen wie mich sind. Ich kann Kontakt aufnehmen, wenn ich das möchte, ich kann mich aber auch ganz einfach zurückziehen, ohne irgendwen vor den Kopf zu stoßen. Außerdem treffe ich online auf viele Gleichgesinnte, weil die in der Anonymität des Internets leichter aus sich herausgehen können – so wie ich.
  • Warum bist du so still? Ich rede lieber, wenn ich wirklich etwas zu sagen habe, sonst kann ich auch sehr gut schweigen. Ich muss nicht um des Redens willen reden.
  • Warum erzählst du so wenig über dich? Weil ich nicht gerne über mich rede -erst recht nicht, wenn ich Menschen nicht besonders gut kenne.
  • Wird dir das nicht langweilig, so wenig Neues auszuprobieren? Nein. Ich verspüre nicht das Bedürfnis, ständig neue Dinge erleben oder entdecken zu müssen. Meine Reizschwelle liegt ohnehin so niedrig, dass viele Alltagssituationen für mich schon aufregend genug sind, da brauche ich in meiner Freizeit nicht noch einen besonderen Kick.

 

Ich bin Intro – und ich stehe dazu

Ich verstehe es ja, dass das Verhalten von introvertierten Menschen die extrovertierten Zeitgenossen hin und wieder vor ein Rätsel stellt, weil sie vieles nicht nachvollziehen können. Bemerkenswert ist allerdings folgendes:

„Von der Anlage her sind 30 bis 50 Prozent der Menschen einer beliebigen Bevölkerung introvertiert – aber die Kultur bestimmt, wie deutlich dies zutage tritt“, so Sylvia Löhken – bekennende Introvertierte und Sach- u. Fachbuchautorin zum Thema. [1]

 
Gibt es also doch so verhältnismäßig viele von uns? In der Realität fühlt sich das für mich nämlich ganz anders an, was vielleicht auch daran liegt, dass viele Intros versuchen, sich ihrer Umwelt irgendwie anzupassen. So auch ich. Ich zwinge mich dazu, mehr aus mir herauszugehen, als ich es eigentlich möchte. Oder nehme Einladungen an, weil ich niemanden enttäuschen und mich nicht immer ausgrenzen möchte, obwohl ich vorher weiß, dass ich lieber zu Hause bleiben würde. Doch was bringt es?

Die Tatsache, dass es intro- und extrovertierte Menschen gibt, ist nicht neu. C.G. Jung sprach bereits 1921 davon. Und doch scheint es erst jetzt langsam akzeptabel zu werden, offen zu seiner Introversion zu stehen. Vielleicht wäre der erste Schritt in eine Welt, die uns Introvertierten mehr Verständnis entgegenbringt, der, sich öfter so zu geben, wie man nun mal ist. In der Hoffnung, dass andere Introvertierte nachziehen und unser Verhalten eines Tages ganz selbstverständlich ist. Nicht besser oder schlechter als extrovertiertes Verhalten – nur anders. Und auf dass man uns Intros eines Tages nicht mehr aufgrund unserer anfänglichen Zurückhaltung reflexartig mit dem Etikett „langweilig“ versieht. Weil wir nämlich einiges sind, aber ganz bestimmt nicht langweilig.

Quelle:
[1] http://www.geistundgegenwart.de/2012/06/leise-menschen-ein-interview-sylvia.html

Fotoquelle: (c) iStock.com/AntonioGuillem

Aktualisiert am: 18. November 2019