Therapie bei ADHS – Ein Erfahrungsbericht
Woran denkst du als erstes, wenn du ADHS – die Abkürzung für das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom – hörst? Viele Menschen denken in erster Linie an ein zappeliges Kind. ADHS bedeutet für uns: einfach nicht ruhig sitzen können, aktiv den Unterricht stören und die Unfähigkeit, einfach mal bei der Sache zu bleiben. Dieses Bild ist vielen Menschen vertraut, was jedoch weniger bekannt ist, ist die Tatsache, dass ADHS auch Erwachsene betreffen kann.
Mein Name ist Kerstin Schuller, ich bin Psychologin bei Instahelp und ich arbeite in der Online-Beratung mit erwachsenen Klient:innen zu unterschiedlichen Fragestellungen rund um die mentale Gesundheit. Innere Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten und eine mangelnde Impulskontrolle spielen auch in meinen Gesprächen mit Klient:innen eine große Rolle. Aber geht es dabei immer gleich um ADHS? Und wenn ja – wie kann man diese Störung im Erwachsenenalter behandeln? Diese Fragen erinnern an die Beratung meiner Klientin Elisa, die mir erlaubt hat, ihre Geschichte mit dir zu teilen. Die Veröffentlichung des folgenden Erfahrungsberichtes erfolgt mit ausdrücklicher Genehmigung der Klientin. Zum Schutz ihrer Privatsphäre wurden Name und persönliche Inhalte der Klientin anonymisiert.
Habe ich ADHS oder bin ich einfach nur ungeduldig?
Elisa habe ich kennengelernt, als sie gerade auf Urlaub war. Scheinbar ist es auch in diesem Rahmen nicht gelungen, innere Ruhe zu finden, was sich in ihrer Erstanfrage widerspiegelt:
Hi Kerstin! Seit Tagen schiebe ich es nun schon vor mich her, dich zu kontaktieren, aber jetzt möchte ich es endlich in Angriff nehmen, weil ich es einfach nicht mehr aushalte. Ich muss wissen, ob mein Verhalten noch normal ist oder ob da etwas dahintersteckt. Ich versuche mal, Worte dafür zu finden: Ich bin wahnsinnig vergesslich, tollpatschig, chaotisch und ich schaffe es einfach nicht, mich längere Zeit zu konzentrieren. Meine Gedanken rasen manchmal wirklich im Kreis und das macht mich so nervös, dass ich innerlich und auch körperlich extrem unruhig werde. Dadurch bin ich gereizt, manchmal auch aggressiv und kann meine Gefühle immer schlechter kontrollieren. Sowohl beruflich als auch privat führt das manchmal zu Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten, weil das Zusammenleben mit mir oft als anstrengend beschrieben wird. Das möchte ich überhaupt nicht und gleichzeitig kann ich mich selbst nicht leiden. Ich weiß nicht, wohin mit mir – was ist nur los? Bin ich einfach nur unruhig, habe ich irgendeine Störung, ADHS vielleicht? Ich hatte gehofft, dass ich hier im Urlaub endlich ein wenig entspannen kann, aber es fühlt sich so an, als wäre das Chaos direkt mit im Gepäck. Ich freue mich auf eine Antwort! Liebe Grüße, Elisa
Die beschriebenen Symptome von Elisa klangen ziemlich vielschichtig und auf den ersten Blick konnte das auf zahlreiche unterschiedliche Störungsbilder hinweisen. Um einen besseren Eindruck zu erlangen, habe ich also ein Erstgespräch vorgeschlagen, welches wir dazu nutzten, die Symptome von Elisa genauer einzuordnen.
Gibt es typische ADHS Symptome bei Erwachsenen?
Im Gespräch mit Elisa zeigten sich viele Symptome, die auf ADHS hindeuten könnten. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, habe ich jedoch empfohlen, sowohl ein internistisches als auch ein psychiatrisches Gutachten einzuholen. Folgende Anzeichen hat sie mir geschildert:
Unaufmerksamkeit
- Konzentrationsschwäche: Sie beschreibt sich als leicht ablenkbar und kann einfach nicht länger bei der Sache bleiben.
- Vergesslichkeitvon alltäglichen Terminen oder Aufgaben, kombiniert mit Unachtsamkeit, Tollpatschigkeit und Problemen mit der Organisation.
Hyperaktivität und Impulsivität
- Innere Unruhe: Elisa erzählt, dass sie eine starke innere Unruhe verspürt und dadurch ständig das Bedürfnis hat, sich zu bewegen oder zu zappeln.
- Impulsivität. Auch wenn sie es gar nicht will, handelt sie oft impulsiv und nimmt die Konsequenzen ihrer Entscheidungen im Moment nicht wahr.
Emotionale Symptome
- Stimmungsschwankungen: Während sie sich manchmal richtig gut fühlt, kann ihre Laune innerhalb weniger Augenblicke unaufhaltsam in den Keller sinken.
- Motivationsprobleme: Das Chaos in Elisas Kopf führt dazu, dass sie alles gleichzeitig und irgendwie auch wieder gar nichts machen möchte.
Soziale und berufliche Schwierigkeiten
- Prokrastination: Elisa erzählt, dass sie tausend Dinge im Kopf hat und nicht weiß, wo sie anfangen soll, was dazu führt, dass sie oft gar nicht erst beginnt.
- Beziehungsschwierigkeiten: Die emotionale Unbeständigkeit und die damit verbundene Impulsivität haben schon einige ihrer sozialen Beziehungen zerstört.
Elisa hat nach einem ausführlichen diagnostischen Gespräch von ihrer Psychiaterin tatsächlich die Diagnose ADHS erhalten. Auf dieser Basis konnte ich parallel zur psychiatrischen Begleitung einen Beratungsprozess planen, der wie folgt aussah:
Wie sieht eine Therapie bei ADHS aus?
Psychoedukation
Wie bei den meisten psychischen Erkrankungen steht auch in der Therapie von ADHS die Psychoedukation an erster Stelle. Diese umfasst eine möglichst gut verständliche und umfassende Information zum Krankheitsbild und zu den Behandlungsmöglichkeiten sowie die Aufklärung über realistische Erwartungen bezüglich des Krankheitsverlaufs. Je besser man informiert ist, desto leichter lässt es sich mit der Diagnose leben. Zudem hilft das Wissen über die Symptome auch, das Selbstbild und die Selbstwahrnehmung zu verbessern. Finde hier ausführlichere Informationen zu ADHS Symptomen, Diagnose und Behandlung. Besonders wichtig zu wissen ist auch, dass ADHS häufig mit anderen Störungsbildern einhergeht. Dazu zählen beispielsweise Schlafstörungen, Depressionen oder Suchterkrankungen.
Psychotherapie bei ADHS
Auch wenn ADHS als solches nicht heilbar ist, ist das Krankheitsbild dennoch gut behandelbar, weshalb der Therapie oder Beratung bei dieser Störung ein besonders hoher Stellenwert beigemessen wird. Als besonders effektiv hat sich bei ADHS die kognitive Verhaltenstherapie erwiesen, da diese dabei hilft, Strategien zu entwickeln, problematische Denkmuster und Verhaltensweisen zu erkennen und zu ändern.
Genau so habe ich es auch mit Elisa besprochen: Mit der Beratung können wir nicht alle Symptome lindern, aber ich kann ihr das nötige Werkzeug an die Hand geben, um unbeschwerter mit der Diagnose leben zu können. Teile dieses Werkzeugkastens waren:
- Das Erkennen von typischen Symptomen und Verhaltensweisen: Je besser Elisa verstehen konnte, warum sie in gewissen Situationen auf eine spezielle Art und Weise reagiert, umso weniger musste ihr Selbstwert darunter leiden, da sie diese nicht länger als Fehler, sondern als Teil einer Krankheit ansehen konnte.
- Das Schaffen von Rahmenbedingungen, die ihre individuellen Bedürfnisse berücksichtigen. Dazu gehören beispielsweise ein strukturierter Tagesplan, Ordnung und Planung im Alltag, eine möglichst ruhige und störungsfreie Arbeitsumgebung und eine Anpassung der Arbeitszeiten.
- Das Training von Achtsamkeitsübungen , um zu lernen, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und im Hier und Jetzt zu bleiben. Dabei haben wir mit einer ganz schlichten Atemübung – der sogenannten “Ein-Minuten-Atmung” begonnen:
Atemübung
Nimm eine angenehme Position ein, in der du deinen Rücken gerade halten kannst. Dies kann sowohl stehend, sitzend als auch liegend sein. Wenn es sicher und angenehm ist, schließe bitte deine Augen. Lege eine Hand auf deinen Bauch und spüre, wie sich dieser bei jedem Atemzug hebt und senkt. Beginne nun, tief durch die Nase einzuatmen und zähle dabei langsam bis vier. Halte den Atem dann für einen Moment an, bevor du langsam durch den Mund wieder ausatmest, während du wieder bis vier zählst. Konzentriere dich dabei ausschließlich auf deinen Atem. Wiederhole diesen Zyklus für mindestens eine Minute und versuche, dich mit jedem Atemzug mehr zu entspannen. Kehre dann wieder in den Alltag zurück, indem du die Augen öffnest und dir einen Moment Zeit nimmst, um die Ruhe nachwirken zu lassen. - Strategien für ein besseres Zeitmanagement: Ich habe Elisa empfohlen, die “Pomodoro-Technik” anzuwenden, welche die Arbeit in viele kleine Zeiteinheiten einteilt. Dies sieht dann beispielsweise so aus:
- Wähle eine Aufgabe, die du heute erledigen musst oder möchtest
- Setze einen Timer auf 25 Minuten
- Arbeite an deiner Aufgabe, bis der Timer abgelaufen ist
- Nimm eine Pause von 5 Minuten
- Setze wieder einen Timer auf 25 Minute und fahre mit der Arbeit fort
- Mache nach jeweils 4 Arbeitseinheiten eine längere Pause von 15-30 Minuten
- Auch körperliche Aktivität spielt bei der Behandlung eine große Rolle, insbesondere bei Patient:innen, die unter Hyperaktivität leiden. Bei Elisa legten wir Wert darauf, einen Sport zu finden, der sich gut in ihren Alltag mit Hund integrieren lässt und auch langfristig Freude bereitet.
- Im Gegensatz dazu zeigte ich ihr einige Entspannungsmethoden, wobei ich den Fokus bei Elisa auf die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson legte, welche eine bewusste Entspannung des Körpers durch gezielte An- und Entspannung der Muskulatur darstellt.
- Um die Stimmungsschwankungen besser abfangen und aushalten zu können, haben wir Strategien zur Emotionsregulation erarbeitet, welche dabei helfen sollen, einen besseren Draht zu ihren Gefühlen aufzubauen. Ein Beispiel dafür ist das Stimmungsbarometer: Ich habe Elisa empfohlen, mehrmals täglich eine kurze Pause einzulegen (dafür kann man sich auch eine Erinnerung einstellen) und die eigene Stimmung zu erfassen. Dafür verwendeten wir eine einfach Grafik, die ein schnelles Reagieren erlaubt:
Um möglichst lange im grünen Bereich zu bleiben, kann es sinnvoll sein, eine Wohlfühl-Liste zu machen, die all jene Aktivitäten sammelt, die Spaß machen. Diese Liste kann auch hilfreich sein, um vom orangen Bereich in den grünen zu kommen. Der Notfallplan für den roten Bereich wurde im Rahmen der Beratung gemeinsam erstellt und beinhaltete unterschiedliche Maßnahmen, um die Stimmung wieder zu stabilisieren. Beispielsweise den Raum verlassen und an die frische Luft gehen, eine Faust ballen oder 5 tiefe Atemzüge nehmen.
Wie lange dauert eine Therapie bei ADHS?
Da ADHS als Erkrankung nicht heilbar ist, macht es Sinn, die psychologische Begleitung über einen längeren Zeitraum einzuplanen. Bei Elisa haben wir mit engmaschigen Kontakten begonnen, indem wir uns wöchentlich zum Video-Telefonat getroffen haben. Nach einigen Einheiten haben wir die Intervalle vergrößert, blieben jedoch im regelmäßigen Kontakt, um die Maßnahmen zu evaluieren und aktuelle Geschehnisse zu besprechen. So sind wir bis heute in Kontakt miteinander und ich darf Elisa weiterhin auf ihrem Weg begleiten.
Die Beratung hat dazu beigetragen, ihren Selbstwert zu stärken, da sie ihre Verhaltensweisen nun nicht mehr als Fehler ansieht, sondern als Teil der Krankheit akzeptiert. Elisa hat gelernt, mit ihrer inneren Unruhe umzugehen und beugt dem emotionalen Kontrollverlust damit aktiv vor, sodass impulsive Handlungen deutlich seltener geworden sind.